Kriegszeiten an der Ostsee

Die Furcht vor der Ausbreitung der Vogelgrippe wächst. Die betroffene Region in Vorpommern befindet sich im im Ausnahmezustand. Und nicht nur dort: Die ganze Republik diskutiert über die Gefahren der Seuche.
Auf den vier Stahltischen in der weiß gekachelten Selektionshalle liegen am frühen Dienstagmorgen die Vogelkadaver dicht gedrängt. Es stinkt nach Verwesung. Blesshühner, Lachmöwen, Silbermöwen, ein junger Höckerschwan, Amseln, Drosseln, Bussarde, von denen teilweise nicht viel mehr als ein vergammeltes Skelett übrig ist - rund 70 tote Vögel sind in nur einer Nacht ins Landesamt für Landwirtschaft, Lebensmittelsicherheit und Fischerei (LALLF) in Rostock geschafft worden.
Pathologe Peter Wolf hat sich einen Mundschutz umgebunden, er trägt Gummischürze und -stiefel. Er ist auf der Suche nach dem Erreger der Vogelgrippe, der Mecklenburg-Vorpommern seit Ende vergangener Woche in Angst und Schrecken versetzt hat: H5N1.
Von jedem einzelnen Tier wird Wolf nun Speichel und Kot abtupfen. Und "wenn das nicht mehr geht, suchen wir nach Nieren- oder Lungengewebe". Vor der Tür spritzt ein Kollege im weißen Schutzanzug samt Maske die Laderampe mit Desinfektionsmittel ab, über die gerade ein Lastwagen die Kadaver des Vortags gekippt hat. Die Epidemiologin der Behörde, Hannelore Roost, sagt: "Rein seuchentechnisch betrachtet, sind vergangene Woche hier Kriegszeiten ausgebrochen."
Tatsächlich hat die Vogelgrippe die deutsche Ostseeküste fest im Griff. Drei Landkreise in Mecklenburg-Vorpommern haben inzwischen Katastrophenalarm ausgelöst. Allein auf der Insel Rügen sind bislang fast 3 000 Tiere getötet worden, mehr als 100 sind an der Krankheit verendet. Die Uniklinik Rostock hat vorsorglich eine Isolierstation für Patienten eingerichtet - Ausnahmezustand an der Ostsee.
Und nicht nur dort: Die ganze Republik diskutiert über die Gefahren der Seuche: Wie groß ist das Risiko, dass der Erreger auch auf andere Tiere wie Kühe oder Schweine überspringt? Hat das Krisenmanagement an der Küste bisher funktioniert oder eher versagt, wie die Vorsitzende des Agrarausschusses im Bundestag, Bärbel Höhn (Grüne), kritisiert? Und was geschieht, wenn die ersten Zugvögel aus ihren Winterquartieren zu Hunderttausenden in Deutschland eintreffen?
Noch ist es zumindest auf dem Festland ruhig. In Prerow auf dem Darß, einem der schönsten Feriengebiete an der Ostseeküste, wo die erste an H5N1 eingegangene Silbermöwe gefunden wurde, sind noch keine weiteren toten Vögel zu sehen. Noch nicht. Siegfried Brosowski, Leiter des Nationalparkamts Vorpommern, glaubt: "Bald ziehen hier die Vögel durch. Die Vogelgrippe wird sich dann rasch auf weitere Küstenländer in Deutschland ausdehnen."
Die ersten H5N1-Infektionen bei drei Vögeln von der Insel Rügen wurden alle in der Rostocker Behörde diagnostiziert. Seit dem Ausbruch der Seuche sind dort bis Dienstag 1 523 Proben untersucht worden. In zehn Kadavern entdeckten die Rostocker Mediziner ein Vogelgrippevirus.
In all diesen Fällen schickten sie die Proben per Kurier an das nationale Referenzlabor des Friedrich-Loeffler-Instituts auf der Insel Riems, nahe Rügen. Die Kollegen dort stellten schließlich den Typ fest: In fünf Fällen handelte es sich um das auch für den Menschen gefährliche Virus H5N1, der Rest waren andere, harmlosere Grippeviren. Mittlerweile teilen sich die Institute die Arbeit: Riems prüft alle Funde von Rügen, die Rostocker jene vom Festland.
Dass die Wissenschaftler es bei den ersten kranken Schwänen mit H5N1 zu tun haben würden, war den Pathologen schon vor dem endgültigen Test klar. "Bei den Tieren hatte sich die Bauchspeicheldrüse schon teilweise aufgelöst", erklärt Wolf.
Anfangs schnitten Wolf und seine Kollegen noch jedes Tier sorgsam auf, "aber dafür haben meine Leute jetzt keine Zeit mehr", sagt der Präsident des LALLF, Frerk Feldhusen. Noch kann der Institutsleiter die gut 400 Proben am Tag - neben rund 100 Kadavern liefern die Veterinäre noch 300 Tupfer mit Proben aus den Hühnerställen des Landes ab - bewältigen. Doch die Kollegen in Brandenburg sind schon alarmiert, wenn es zu viel werden sollte. "Der Flaschenhals sind qualifizierte Mitarbeiter, vor allem für die Aufbereitung des Virus", erzählt Feldhusen. Einige seiner Experten hat er aus dem Urlaub zurückgeholt, sie arbeiten nun von sechs bis 22 Uhr im Zwei-Schicht-Betrieb.
Auch beim Equipment hat er in den vergangenen Tagen kräftig aufgerüstet. Ein zweites Spezialgerät zur Virus-Vermehrung - Kostenpunkt 35 000 Euro - ist bestellt. In der Nacht brachte zudem ein Lkw 5 000 neue Schutzanzüge, Stiefel, Schutzmasken und -brillen. "Plötzlich geht alles", lächelt Feldhusen, der bis vor zwei Wochen noch mit Geld- und Personalnot kämpfte.
Die Landesregierung in Schwerin warnt zwar weiter vor jeglicher Art von Panikmache, hat aber die eigenen Anstrengungen zur Bekämpfung der Seuche verstärkt. Am Dienstag sagte Ministerpräsident Harald Ringstorff (SPD), er rechne in den kommenden Wochen auf Grund des einsetzenden Tauwetters und des Vogelzugs mit einem weiter erhöhten Vogelgripperisiko. Noch seien viele Binnenseen zugefroren, so dass sich ungezählte Wasservögel in der eisfreien Ostsee aufhielten. Diese würden aber schon bald bei weiter steigenden Temperaturen an die heimischen Seen zurückkehren.
Sollte sich die Krankheit wirklich weiter verbreiten, sorgen sich insbesondere Bauern und Geflügelzüchter um ihre Existenz. Vor allem in Niedersachsen geht die Angst um. Hier gackern und schnattern mehr als 13 Millionen Legehennen und 28 Millionen Masthähnchen - Massentötungen von mehreren Millionen Hühnern erscheinen dem Bauernverband dort seit Dienstag als sehr reale Gefahr.
An der Ostsee fürchtet man indes vor allem die Folgen für den Tourismus. Olaf Mundt, der Wirt des "Achtern Diek", dessen Gasthaus nahe Prerow direkt am Strand liegt, sagt: "Wenn die Hysterie so weitergeht, wird die erste Urlauberwelle zu Ostern wohl deutlich schwächer ausfallen."

HANDELSBLATT, Mittwoch, 22. Februar 2006, 15:44 Uhr


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