Ein grenzenloser Albtraum
Der Ausbruch der Vogelgrippe verunsichert die Deutschen: Die
Nachfrage nach Geflügelprodukten sinkt wie in vielen anderen
EU-Ländern. Die Behörden versuchen auf allen Ebenen, ein
Übergreifen des Virus auf Zuchttiere zu verhindern. Einige
Politiker und Experten befürchten noch eine ganz andere
Katastrophe: die Absage der Fußball-WM.
Männer mit Schutzanzügen, Absperrungen, getötetes
Geflügel: Die Einwohner von Rügen trauen ihren Augen kaum. Nach
dem Ausbruch der Vogelgrippe ist nichts mehr so, wie es einmal
war. Auch der Tourismus auf der Ostseeinsel leidet unter dem
Ausnahmezustand.
In Hotels auf Rügen und an der Ostseeküste gingen erste
Stornierungen wegen der Vogelgrippe ein. Der Geschäftsführer des
Landestourismusverbandes, Jürgen Fischer, befürchtet bei einer
weiteren Ausbreitung der Vogelgrippe auf dem Festland eine "sehr
große Buchungszurückhaltung." Fischer betonte, Angst vor
Vogelgrippe werde von den Reiseveranstaltern jedoch nicht als
Rücktrittsgrund anerkannt, weil keine Gefährdung durch die
Krankheit vorliege.
Auch außerhalb von Rügen wachsen die Sorgen. Einige Politiker
und Experten brachten sogar eine Absage der Fußball-WM ins
Gespräch. "Sagen wir mal, das Virus ist da, und es gibt so
Riesenveranstaltungen, dann wäre ich schon dafür zu sagen, lasst
uns überlegen, die ausfallen zu lassen", sagte Bärbel Höhn
(Grüne), Vorsitzende des Landwirtschaftsausschusses des
Bundestages. "Das wäre eher Vorsicht als Mut."
Der Leiter des Influenza-Programms der WHO, Klaus Stöhr,
pflichtete der Politikerin bei. Dies sei "keine Schwarzmalerei".
Sollte während der Fußball-WM in Deutschland eine Pandemie
ausbrechen, "muss man sich ganz genau überlegen, was man tut".
Diese Überlegungen beziehen sich jedoch auf die Möglichkeit,
dass die Vogelgrippe direkt von Mensch zu Mensch übertragen
würde.
Auf einer Sonderkonferenz wollen die Gesundheitsminister von
Bund und Ländern am Donnerstag über die Bevorratung von
Medikamenten für den Fall einer weltumspannenden Grippe-Epidemie
beraten.
Dabei soll geklärt werden, wie weit die Schutzbemühungen der
Länder für die Bevölkerung gediehen seien. Im Bund-Länder-Plan
für den Fall einer Pandemie ist vorgesehen, dass die
Bundesländer antivirale Medikamente - zum Beispiel Tamiflu - für
20 Prozent der Bevölkerung anschaffen sollen. Das
Robert-Koch-Institut hat mehrfach kritisiert, dass viele Länder
diese Quote nicht erreicht haben und die Mittel aus Spargründen
nicht in diesem Umfang anschafften.
Das Auftreten der Vogelgrippe hat in Europa bereits erhebliche
wirtschaftliche Schäden verursacht. Zum einen beläuft sich der
Absatzeinbruch bei Geflügelfleisch nach Angaben des
Zentralverbandes der Deutschen Geflügelwirtschaft (ZDG) seit
Oktober letzten Jahres allein in Deutschland auf etwa zehn bis
15 Prozent. Zum anderen drohen bei einer Übertragung des Virus
von Wild-auf Nutztiere weitere drastische Rückgänge, weil
beispielsweise die Hersteller von Wurst- und Fleischwaren auf
Schweinefleisch ausweichen wollen.
"In diesem Fall planen wir eine Veränderung der Rezepturen",
bestätigte Willi Denecke, Geschäftsführer von Zimbo,
Deutschlands Marktführer bei SB-verpackten Wurst- und
Fleischwaren, dem Handelsblatt. Auch Konkurrent Herta, ein
Tochterunternehmen des Schweizer Nahrungsmittelmultis Nestlé,
hat Ähnliches im Sinn. "Wir werden reagieren, wenn unsere
Produkte in den Verkaufregalen liegen bleiben", sagte eine
Nestlé-Sprecherin, ohne Einzelheiten zu nennen.
Bei den betroffenen Unternehmen der Geflügelwirtschaft wird das
drohende Desaster noch heruntergespielt. Während Peter
Wesjohann, Juniorchef des Marktführers PHW-Gruppe (Marke:
"Wiesenhof"), offiziell "keinerlei Einbußen" eingesteht,
berichtet die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) von
Produktionsrückgängen in einzelnen PHW-Betrieben von bis zu 30
Prozent.
Hintergrund: Die drängensten Fragen zur Vogelgrippe
In Italien, dem viertgrößten Geflügelfleisch-Produzenten der
Europäischen Union, reagieren die Verbraucher schon fast
hysterisch auf die jüngsten Meldungen zum Ausbruch der
Vogelgrippe. Innerhalb von wenigen Tagen ist der Konsum um 70
Prozent eingebrochen. "Von 180 000 Angestellten sind bereits
30 000 zu Hause", sagte Aldo Muraro, Präsident der italienischen
Vereinigung der Geflügelzüchter. In einigen italienischen
Supermärkten hätten sich Mitarbeiter geweigert, die Lieferungen
auszupacken.
Bereits in den vergangenen vier Monaten haben Italiens
Geflügelzüchter insgesamt vier Millionen Euro für eine
Werbekampagne ausgegeben, um die Verbraucher zu beruhigen. Der
Landwirtschaftsverband Confagricoltura beziffert den
wirtschaftlichen Schaden inzwischen auf 400 Millionen Euro,
40 000 Arbeitsplätze seien in Gefahr. Die Confagricoltura
fordert daher staatliche Hilfen für die 5 000 Geflügelzüchter in
Italien in Form von Krediten oder Steuererleichterungen.
In Deutschland kommt bei einer Tötung kompletter Tierbestände
wie bei der BSE-Krise dagegen die Tierseuchenkasse (TSK) zur
Hälfte für den finanziellen Schaden auf. Die TSK ist eine
Zwangsversicherung der deutschen Landwirte. Die andere Hälfte
trägt das jeweilige Bundesland.
"Die Verbraucher werden die Auswirkungen dieser Entwicklung vor
allem in ihrem Portemonnaie zu spüren bekommen", sagt Jürgen
Abraham, Vorsitzender der Bundesvereinigung der deutschen
Ernährungsindustrie (BVE). Denn eine steigende Nachfrage
beispielsweise nach Schweinefleisch würde die Preise in die Höhe
treiben. Das würde auch der Handel zu spüren bekommen. "Wir
rechnen mit herben Verlusten, sollte sich die Krankheit auf
Zuchtbetriebe ausweiten", sagt Gerd Härig, Geschäftsführer des
Bundesverbands des Deutschen Lebensmittelhandels (BVL). In einem
solchen Fall könnte sich der Markt ähnlich entwickeln wie vor
einigen Jahren nach dem Ausbruch der Rinderseuche BSE. Damals
war der Verkauf von Rindfleisch um 30 bis 40 Prozent
eingebrochen.
Auch in Frankreich zeigt die Angst vor der Vogelgrippe
wirtschaftliche Auswirkungen. Das Land ist der weltweit
viertgrößte Geflügelexporteur der Welt. Rund 31 100
Geflügelfarmen gibt es, sie halten insgesamt rund 293 Millionen
Tiere. 65 000 Beschäftigte erwirtschaften einen Umsatz von sechs
Milliarden Euro. Eines der größten Unternehmen ist Doux mit
einem Jahresumsatz von 1,4 Milliarden Euro, das auch nach
Deutschland exportiert: "Die deutschen Verbraucher reagieren
bislang angemessen, dagegen sind die Bestellungen in den Nahen
Osten um 20 bis 30 Prozent rückläufig", sagte ein Doux-Sprecher.
Das Unternehmen erwägt derzeit Produktionsstopps, um sich der
gesunkenen Nachfrage anzupassen. Wettbewerber Tilly-Sabco will
im März und April jeweils für eine Woche seine 500 Mitarbeiter
nach Hause schicken.
Denn auch französische Verbraucher sind vorsichtiger geworden:
So ist der Geflügelabsatz in Frankreich um 15 bis 20 Prozent
seit Anfang des Jahres gesunken, teilte der Verband der
Geflügelzüchter mit. Die französische Regierung hat insgesamt
sechs Millionen Euro Soforthilfe versprochen: Eine Million soll
in eine Werbekampagne investiert werden, um die Verbraucher zu
beruhigen. Lediglich die Briten reagieren bislang gelassen. Der
Geflügelfleischproduzent Grampian Country Food Group in Leeds
meldete gestern eine unveränderte Nachfrage. Bislang seien
keinerlei Auswirkungen auf das Geschäft zu spüren, die
Produktionsstätten arbeiteten normal.
HANDELSBLATT, Dienstag, 21. Februar 2006, 12:21 Uhr