Länder streiten über Medikamenten-Vorrat

Mit der Ausbreitung der Vogelgrippe rückt auch das Horror-Szenario einer Grippe-Pandemie wieder näher. Die Befürchtung: Das Virus H5N1 könnte sich mit einem menschlichen Erreger zu einer tödlichen Variante verbinden. Der nordrhein-westfälische Gesundheitsminister Laumann mahnte jene Bundesländer, die nicht genügend Medikamente bevorraten.
Experten haben den Bundesländern nahe gelegt, für den Fall der Fälle einen Vorrat an Medikamenten anzulegen - so viel, dass mindestens 20 Prozent der Bevölkerung behandelt werden könnten. Den Rat der Experten hat bislang aber nur Nordrhein-Westfalen befolgt. Das Land bestellte 6,35 Millionen Therapieeinheiten, die nach Angaben des Gesundheitsministeriums für rund 30 Prozent der Bevölkerung reichen. Der Kaufpreis lag bei 67 Millionen Euro. Eingelagert seien jedoch erst 1,25 Millionen Einheiten. Bis Juni könne der Bestand auf 2,2 Millionen Dosen aufgestockt werden. Die andere Hälfte der Bestellung werde erst für Dezember erwartet.
Angesichts der fortschreitenden Verbreitung der Vogelgrippe kritisierte der nordrhein-westfälische Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) indirekt jene Bundesländer, die nicht genügend Grippemedikamente bevorraten. Nordrhein-Westfalen habe für 30 Prozent der Bevölkerung antivirale Medikamente angeschafft, sagte Laumann den "Ruhr Nachrichten". Andere Länder hielten nicht einmal die empfohlene Menge für 20 Prozent vor.
In Bayern wurden für 22,4 Millionen Euro rund 1,9 Millionen Einheiten antiviraler Arzneimittel geordert. Sollte das Virus auf den Menschen überspringen, rechnet das Ministerium nach dem Szenario des nationalen Pandemieplanes, dass sich jeder dritte der 12,3 Millionen Einwohner Bayerns infizieren werde. Rund zwei Millionen der Infizierten würden ärztliche Hilfe suchen. Davon würden laut der Prognose 54 000 auf Grund der Schwere der Erkrankung ins Krankenhaus eingewiesen und 14 000 sterben.
Der Gesundheitsminister Sachsen-Anhalts, Gerry Kley, bezeichnete einen Vorrat für vier bis fünf Prozent der Bevölkerung als ausreichend. Diese Quote entspreche den Erfahrungen mit der Spanischen Grippe von 1918 oder ähnlichen Pandemien, die immer erst "in einer schwachen Welle" aufgetaucht seien, sagte er im Südwestrundfunk. Erst nach etwa einem halben Jahr habe die jeweilige Influenza in großem Umfang eingesetzt. Bis dahin könne ein Impfstoff entwickelt sein.
Rheinland-Pfalz hat 500 000 Dosen Therapieeinheiten für rund 5,3 Millionen Euro bestellt. Damit könnten nach Angaben des Mainzer Sozialministeriums 12,3 Prozent der Bevölkerung behandelt werden. Die erste Tranche der bestellten Medikamente wurde im Dezember 2005 geliefert. Der Rest wird im Laufe des Jahres 2006 geliefert. Die hessische Landesregierung orderte zunächst knapp 500.000 Dosen für fünf Millionen Euro. Im Januar wurde ein Sonderprogramm zur Abwehr einer Grippepandemie im Umfang von weiteren zehn Millionen Euro beschlossen. Teil des Programms ist der Ankauf von weiteren 530 000 Therapieeinheiten. Eine Million Einheiten würden für etwa 15 Prozent der hessischen Bevölkerung ausreichen.
In Thüringen wurde für zehn Prozent der Bevölkerung vorgesorgt; dafür investierte das Land zwei Millionen Euro. Baden-Württemberg gab 8,5 Millionen Euro aus für Medikamente für 7,6 Prozent der Bevölkerung, Bremen und Niedersachsen schafften Anti-Influenza-Mittel für jeweils sieben Prozent der Bürger an. Vorräte für um die sechs Prozent der Bevölkerung liegen in Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern und Hamburg bereit. Die Hansestadt investierte dafür gut eine Million Euro, die Regierung in Kiel 1,7 Millionen Euro.
Kritiker der Bevorratung verweisen auf jüngste Studien, wonach es für die Wirksamkeit von Tamiflu und Relenza im Falle einer Vogelgrippe-Epidemie keine glaubhaften Beweise gebe. Tamiflu-Hersteller Roche reagierte darauf im Januar mit der Veröffentlichung einer neuen Untersuchung über den Nutzen des Medikaments.
Keiner habe behauptet, dass antivirale Medikamente "ein Wundermittel" seien, sagte Glasmacher vom Robert-Koch-Institut. Die Betroffenen würden nicht schlagartig gesund. Die Mittel müssten außerdem frühzeitig - in den ersten zwei Tagen nach dem Auftauchen erster Symptome - eingenommen werden. Es gebe aber Studien, die zeigten, dass die Arzneimittel höchstwahrscheinlich bei allen Viren, die eine Pandemie auslösen könnten, wirksam seien. Zugleich verwies sie darauf, dass es mit den Medikamenten bisher auch wenig Erfahrung gebe.
Auf Rügen, wo der Vogelgrippe-Virus erstmals in Deutschland nachgewiesen worden war, sind derzeit 40 Bundeswehrsoldaten der ABC-Abwehrtruppe aus Brandenburg und Schleswig-Holstein im Einsatz. Sie betreiben insgesamt drei Desinfektionspunkte, teilte das Wehrbereichskommando Küste am Sonntagabend in Kiel mit. Dort würden Fahrzeuge desinfiziert, die die Insel verlassen wollen.
Knapp eine Woche nach dem ersten Auftreten der Vogelgrippe hatte die Ostseeinsel den Katastrophenfall erklärt. "Der Landkreis ist nicht mehr in der Lage, mit seinen eigenen Kräften die toten Wildvögel zu beseitigen. Die Anzahl erhöht sich stündlich", sagte Landrätin Kerstin Kassner.
Um eine weitere Ausbreitung der Vogelgrippe von Rügen aus zu verhindern, hat die Bundesregierung zudem 250 Bundeswehrsoldaten zum Einsammeln toter Vögel auf die Insel geschickt. Bundesagrarminister Horst Seehofer (CSU) sagte vor einem Treffen mit seinen EU-Kollegen in Brüssel, die Bundesregierung habe in der Nacht Maßnahmen beschlossen, um die die Lage auf Rügen in den Griff zu bekommen. Bis Mittag sollten die Soldaten ihren Einsatz beginnen und tote Vögel aus dem Wasser holen. Bereits jetzt habe sich der Vogelgrippevirus weiterverbreitet, weil Aas fressende Vögel sich bei bereits verendeten Tieren angesteckt hätten. Zudem sei ein hochrangiger Beamter des Bundes in den Krisenstab nach Schwerin entsandt worden.
Die EU-Agrarminister beraten in Brüssel über den Kampf gegen die Vogelgrippe. Für Entscheidungen über Entschädigungen für die Landwirte wegen der vor ellem in Italien nachlassenden Nachfrage nach Geflügel sei es noch zu früh, sagte Seehofer. Zuerst gelte es, die Probleme auf Rügen zu lösen. Er wolle auf EU-Ebene für eine bessere Kontrolle an den Grenzen werben, um das Einschleppen des Virus zu verhindern. Seehofer sprach sich erneut zum jetzigen Zeitpunkt gegen Impfprogramme für Geflügel aus, weil sich damit das Virus unbemerkt verbreiten könnte. Allerdings sei das Impfen auch kein Tabuthema. Seehofer forderte darüber eine Debatte in der EU. Dabei müse es auch um die Entwicklung neuer Impfstoffe gehen.

HANDELSBLATT, Montag, 20. Februar 2006, 10:35 Uhr


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