Rügen ruft den Katastrophenfall aus

Die Vogelgrippe hat das deutsche Festland erreicht. Doch so schlimm wie auf der Insel Rügen ist es dort bei weitem nicht. Die Bundeswehr ist auf die Insel vorgerückt, um eine weitere Ausbreitung zu verhindern. Mit drastischen Maßnahmen wollen die Behörden ein Überspringen auf Nutztiere verhindern.
Wie das Bundesforschungsinstitut für Tiergesundheit auf der Insel Riems am Sonntagabend mitteilte, wurde bei 2 von insgesamt 5 toten Wildvögeln aus Ostvorpommern und Nordvorpommern eine Infektion mit dem Erreger festgestellt. Dabei handelt es sich um einen Bussard und eine Silbermöwe. Insgesamt stieg die Zahl der verseuchten Vögel in Mecklenburg-Vorpommern damit auf 81. Auf Rügen allein wurden bis zum Sonntag 79 infizierte Tiere gefunden.
Das gesamte Inselgebiet Rügens von etwa 1 000 Quadratkilometern wurde zum Schutzgebiet erklärt. Landrätin Kerstin Kassner rief am Abend den Katastrophenfall aus. "Der Landkreis ist nicht mehr in der Lage, mit seinen eigenen Kräften die toten Wildvögel zu beseitigen. Die Anzahl erhöht sich stündlich. Wir hoffen, dass wir mit Unterstützung von Bund und Land die schwierige Situation meistern", begründete die Landrätin ihre Entscheidung. 275 Helfer seien im Einsatz, um tote Vögel zu sichten und zu bergen sowie Absperrungen zu errichten.
Spezialkräfte einer ABC-Abwehrtruppe der Bundeswehr stellten am Sonntag am Rügendamm, der einzigen Direktverbindung zum Festland, Seuchenwannen für Autos, Fußgänger und Radfahrer auf. Auch am Fährhafen von Sassnitz sowie an der Autofähre von Wittow wurden Desinfektionsanlagen für Autos und Lastwagen aufgebaut.
Die Behörden auf Rügen ordneten die Tötung von Nutztieren an, obwohl bei diesen noch kein Fall von Vogelgrippe vorliegt. Mit dem so genannten Keulen soll verhindert werden, dass das gefährliche Virus vom Wild- auf das Hausgeflügel überspringt. Wie viele Nutztiere von der vorsorglichen Tötung betroffen sind, war nicht klar. Betroffen ist zunächst das Nutzgeflügel in näherer Umgebung der Fundstellen infizierter Wildvögel. Zudem werden Haustierbestände getötet, in die nachweislich Menschen gelangten, die sich zuvor in der Nähe der Infektionsherde aufhielten.
Bundeskanzlerin Angela Merkel, die sich vor Ort ein Bild von der Lage machte, erklärte, es sei jetzt wichtig, eine "ruhige Informationspolitik" zu betreiben. Sie bot die Hilfe des Bundes und des Landes Mecklenburg-Vorpommern an, falls die vor Ort eingesetzten Hilfskräfte nicht ausreichen sollten.
Auch in anderen Teilen Westeuropas breitete sich das für den Menschen gefährliche Virus H5N1 aus. Erstmals ist auch Frankreich betroffen, das der größte Geflügelproduzent der EU ist. In Österreich muss das Geflügel landesweit im Stall bleiben. Frankreich ist nach der Türkei, Griechenland, Rumänien, Bulgarien, Slowenien, Italien, Österreich und Deutschland das neunte Land in Europa, in dem der H5N1-Erreger festgestellt wurde.
Im Raum Lyon im Südosten Frankreichs, wo die mit H5N1 infizierte Ente gefunden worden war, wurde eine drei Kilometer weite Schutzzone eingerichtet. Landwirtschaftsminister Dominique Bussereau kündigte die Impfung von rund 900 000 Hühnern und Gänsen an, um ein Übergreifen der Grippe auf Bauernhöfe zu verhindern. Das Impfen gegen die Vogelgrippe ist unter Fachleuten jedoch umstritten; die EU-Agrarminister wollten am Montag über einen entsprechenden Antrag Frankreichs und der Niederlande beraten.
Auch in Asien breitete sich die Vogelgrippe weiter aus: Am Samstag wurde der H5N1-Erreger erstmals in Indien nachgewiesen. In der Umgebung der Stadt Navapur starben in den vergangenen zwei Wochen mindestens 30 000 Hühner. Zudem starb in der Nähe auch ein 27-jähriger Hofbesitzer an einer Grippe, wie ein Behördensprecher am Sonntag erklärte. Die Todesursache werde untersucht. Rund eine Million Stück Geflügel sollen in dem Zentrum der indischen Geflügelzucht nun vorsorglich getötet werden.
Nach WHO-Zahlen sind seit dem Ausbruch der Vogelgrippe Ende 2003 mindestens 91 Menschen an der Tierseuche gestorben. Alle Opfer lebten in Ostasien oder der Türkei.
Die deutsche Geflügelwirtschaft ist derweil zuversichtlich, dass sich der Ausbruch der Tierseuche in Deutschland eindämmen lässt. "Wir sind besorgt, aber auch zuversichtlich, dass es gelingen wird, das Virus aus den Wirtschaftsgeflügelbeständen herauszuhalten", sagte der Sprecher des Branchenverbandes, Thomas Janning. Für die Verbraucher gebe es auch weiterhin keinen Grund zur Besorgnis. Seit fünf Jahren werde alles Geflügel vor der Schlachtung auf Grippeviren untersucht, es habe noch keinen positiven Fall gegeben.
Der Deutsche Tierschutzbund protestierte scharf gegen die vorsorgliche Geflügeltötung auf Rügen. Nach ersten Schätzungen würden 10 000 Tiere getötet, berichtete die Organisation in Bonn. "Es liegt keine akute Infizierung der Tiere vor, auch für den Menschen gibt es keine neue Gefahr", erklärte Tierschutzbund-Präsident Wolfgang Apel.
Mecklenburg-Vorpommerns Landwirtschaftsminister Till Backhaus (SPD) erläuterte, es gehe darum, "alle Maßnahmen zu ergreifen, damit Deutschland nicht gesperrt wird". Er bezog sich auf mögliche Handelsbeschränkungen für Deutschland in der EU. Deutschland habe Geflügelbestände von 123 Millionen Tieren im Wert von 1,3 Milliarden Euro. Diese dürften nicht gefährdet werden. Grundlage für die Keulung sei eine umfassende Risikobewertung durch das Friedrich-Loeffler- Institut. Die Tiere werden in Containern mit Kohlendioxid getötet.
Nach Angaben der Landestierärztin Maria Dayen werden Bestände mit erhöhten Risiken gekeult, so aus Betrieben in der Nähe größerer Schwanenkolonien, mit Freilandhaltung oder in Betrieben mit viel Besucherverkehr. Ein Grund für die Maßnahme sei auch die Inkubationszeit von der Infektion bis zum Ausbruch der Vogelgrippe. Nach Dayens Angaben gibt es auf Rügen rund 800 Geflügelhaltungen mit rund 400 000 Tieren.
Zu den Fällen auf dem Festland sagte der Präsident des Friedrich-Loeffler-Instituts auf Riems, Thomas Mettenleiter: "Damit ist das eingetreten, was zu befürchten war." Umso wichtiger sei die strikte Einhaltung des Aufstallungsgebots für Nutzgeflügel sowie eine umfassende Bestandshygiene, um ein Eindringen der Vogelgrippe in die Nutzgeflügelpopulation zu verhindern.
Bund, Länder und Kommunen debattieren über Zuständigkeiten und Vorsorge. Die Vorsitzende des Agrarausschusses im Bundestag, Bärbel Höhn (Grüne), verlangte wie Bundeslandwirtschaftsminister Horst Seehofer (CSU) mehr Bundeskompetenzen. Niedersachsens Agrarminister Hans-Heinrich Ehlen (CDU) und der bayerische Gesundheitsminister Werner Schnappauf (CSU) lehnten diese Forderungen hingegen ab. Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) kritisierte eine aus ihrer Sicht mangelnde Bevorratung von Grippemitteln durch die Bundesländer. Schnappauf forderte seinerseits von der Bundesregierung mehr Engagement bei der Vorratshaltung der antiviralen Medikamente.

HANDELSBLATT, Montag, 20. Februar 2006, 07:29 Uhr


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