Vogelgrippe erreicht deutsches Festland

Der gefährliche Vogelgrippevirus H5N1 hat das deutsche Festland erreicht. Bei zwei von fünf am Sonntag im Referenzlabor für Vogelgrippe am Friedrich-Loeffler-Institut auf der Insel Riems untersuchten Wildvögeln, die in der Hansestadt Rostock und im Landkreis Vorpommern gefunden wurden, wurde das Virus nachgewiesen. Derweil hat auf Rügen als Vorsichtsmaßnahme die Keulung erster Nutzvögel begonnen. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) zeigte sich bei einem Besuch der Insel besorgt über die Ausbreitung der Vogelgrippe und bezeichnete die Lage auf der Insel als "ernst".
Die auf dem Festland gefundenen Tiere waren vom Landeslabor in Rostock auf die Insel Riems gebracht worden. Sie wurden in Ost- und Nordvorpommern gefunden. Der Präsident des Friedrich-Loeffler-Instituts auf Riems, Thomas Mettenleiter, sagte: "Damit ist das eingetreten, was zu befürchten war." Umso wichtiger sei die strikte Einhaltung des Aufstallungsgebots für Nutzgeflügel sowie eine umfassende Bestandshygiene, um ein Eindringen der Vogelgrippe in die Nutzgeflügelpopulation zu verhindern. Bei den beiden H5N1-Infektionen auf dem Fastland handelt es sich um einen Bussard und eine Silbermöwe.
Bei zwei Blesshühnern aus Rostock und Nordvorpommern sowie einem Höckerschwan, der ebenfalls in Nordvorpommern gefunden wurde, wurde dagegen kein H5N1-Virus nachgewiesen. Weitere elf Proben aus dem Raum Greifswald waren ebenfalls negativ. Darüber hinaus stellte das Referenzlabor bei weiteren 20 Wildvögeln von der Insel Rügen, überwiegend aus dem Gebiet um die Wittower Fähre, H5N1-Infektionen fest. Die Zahl der positiv getesteten Wildvögel beläuft sich damit 81, davon 79 auf der Insel Rügen.
Auch in anderen Teilen Westeuropas breitete sich das für den Menschen gefährliche Virus H5N1 aus. Erstmals ist auch Frankreich betroffen, das der größte Geflügelproduzent der EU ist. In Österreich trat eine landesweite Stallpflicht für Geflügel in Kraft.
Auf Rügen wurden am Nachmittag die ersten Nutztiere getötet, um die Verbreitung der Vogelgrippe zu verhindern. Nach bisherigen Untersuchungsergebnissen sei das hochpathogene H5N1-Virus noch nicht auf Nutztiere übergesprungen, auf der Grundlage einer "umfassenden Risikobewertung" habe man nach Absprache zwischen Landkreis und Landesregierung aber die vorsorgliche Tötung von Haustieren wie Hühnern, Enten, Gänsen und Puten in besonders gefährdeten Regionen der Insel angeordnet, sagte der Landwirtschaftsminister von Mecklenburg-Vorpommern, Till Backhaus, am Sonntag in Schwerin. Am Sonntag trafen Spezialisten der Bundeswehr auf der Ostseeinsel ein, um bei Absperrungen und der Desinfizierung zu helfen.
Bundeskanzlerin Angela Merkel, die sich vor Ort ein Bild der Lage verschaffte, bezeichnete die Lage im Vogelgrippegebiet auf Rügen als ernst. Es sei sehr erfreulich, dass jetzt auch die Bundeswehr eingetroffen sei, um zu helfen, sagte sie am Sonntag bei einem Besuch in Bergen. Zuvor hatte sich die Kanzlerin etwa eine Stunde lang beim Krisenstab über die Situation informiert.
Ziel und Bestrebung müsse es jetzt sein, ein Übergreifen der Seuche vom Wild- auf Hausgeflügel zu verhindern, erklärte die Kanzlerin. Sie wies ausdrücklich darauf hin, dass bislang kein Fall von Vogelgrippe bei Nutztieren festgestellt worden sei. Die Tötung von Geflügel auf Rügen sei vorsorglich, betonte sie.
Merkel bot die Hilfe des Bundes und des Landes Mecklenburg-Vorpommern an, falls die vor Ort eingesetzten Hilfskräfte nicht ausreichen sollten. Offiziell besuchte die Kanzlerin die Ostseeinsel, die in ihrem Wahlkreis liegt, als Wahlkreisabgeordnete.
Wie viele Nutztiere von der vorsorglichen Tötung betroffen sind, konnte Backhaus zunächst nicht sagen, da die Risikobewertung noch weiter laufe. Betroffen sei zunächst das Nutzgeflügel in näherer Umgebung der Fundstellen infizierter Wildvögel, vor allem Enten und Hühner. Zudem werden Haustierbestände getötet, in die nachweislich Menschen gelangten, die sich zuvor an Infektionsherden aufhielten. Auf Rügen sind rund 800 Hausgeflügelbestände mit mehr als 400 000 Stück Geflügel verschiedenster Arten registriert.
Auf dem Geflügelhof Kliewe in Ummanz auf Rügen wurden erste Schutzmaßnahmen eingeleitet. Martin Häger, Mitarbeiter auf dem Geflügelhof, sagte am Mittag, Mitarbeiter des Ordnungsamtes/Veterinäramtes seien bereits auf dem Hof. Betroffen seien rund 2 000 Tiere. Benachbarte Landkreise außerhalb der Insel wurden aufgefordert, Beobachtungszonen einzurichten. Nach Kritik am zögerlichen Beginn der Bergung toter Tiere wurde die Zahl der Helfer deutlich erhöht.
Der Deutsche Tierschutzbund kritisierte die Tötung von Haustierbeständen auf der Ostseeinsel Rügen scharf. "Es gibt keinen vernünftigen Grund, jetzt mit den Massenkeulungen zu beginnen. Es liegt keine akute Infizierung der Tiere vor, auch für den Menschen gibt es keine neue Gefahr", erklärte der Präsident der Organisation, Wolfgang Apel, am Sonntag in Bonn. Der Tierschutzbund rief die Behörden auf, die Anordnung zurückzunehmen.
"Der absolute Stillstand in der betroffenen Region ist die in der jetzigen Lage angemessene Prävention. Blinder Aktionismus und Massenkeulungen quasi in vorauseilender Panik sind jetzt fehl am Platze", erklärte Apel. Offenbar habe der Krisenstab vor Ort bisher nicht alle nötigen Maßnahmen konsequent in die Wege geleitet, um einen absoluten Stillstand in der Region zu garantieren. Das aber wäre nötig, damit sich das Virus nicht weiter verbreite. "Es wäre fatal, nun die Tiere für das Versagen des Krisenmanagements vor Ort büßen zu lassen", heißt es in einer Mitteilung des Tierschutzbundes. Erst wenn nachweislich Haustierbestände betroffen seien, dürften Tötungen infizierter Tiere - auch aus Tierschutzsicht - erwogen werden.
Das gesamte Inselgebiet mit seiner Gesamtfläche von etwa 1 000 Quadratkilometern wurde zum Schutzgebiet erklärt. Ein Bundeswehr-Vorauskommando einer so genannten ABC-Einheit errichtete gemeinsam mit dem THW Seuchenschutzsperren auf dem Rügendamm und anderen ausgewählten Orten. Das bereits am Samstag eingetroffene Vorkommando sollte durch erfahrene Soldaten der ABC-Abwehrbataillone 805 in Prenzlau/Brandenburg und 610 in Albersdorf/Schleswig-Holstein verstärkt werden. Insgesamt sollten 40 Soldaten Amtshilfe leisten. Ihre vorrangige Aufgabe ist die Desinfektion von Fahrzeugen, Personen und Flächen. Zudem sorgen in den Krisenstäben in Schwerin und in Bergen auf Rügen Veterinäroffiziere für die Koordination.
Die angrenzenden Landkreise wurden zu Beobachtungszonen erklärt und die dortigen Krisenzentren aktiviert. Die Untersuchung toter Vögel konzentriere sich nicht mehr vorrangig auf Tiere der Insel, sagte Backhaus. Wichtig sei jetzt, Funde landesweit zu untersuchen, um möglichst schnell weitere Virenherde aufzuklären.
Auf Rügen waren Mitte der Woche die ersten Vogelgrippefälle in Deutschland gemeldet worden. Bundesregierung und die Landesregierung von Mecklenburg-Vorpommern haben die Inselbehörden scharf für den Umgang mit dem Ausbruch der Tierseuche kritisiert. "Wir haben kein Handlungsdefizit, sondern ein Umsetzungsdefizit", sagte Backhaus auf Rügen. Er wolle eine Landrätekonferenz einberufen, um alle Landkreise und kreisfreien Städte zu informieren. Im Gespräch mit Landwirten habe er den Eindruck gewonnen, dass nicht allen der Ernst der Lage bewusst gewesen sei.
Im Raum Lyon im Südosten Frankreichs, wo die mit H5N1 infizierte Ente gefunden worden war, wurde eine drei Kilometer weite Schutzzone eingerichtet. Landwirtschaftsminister Dominique Bussereau kündigte die Impfung von rund 900.000 Hühnern und Gänsen an, um ein Übergreifen der Grippe auf Bauernhöfe zu verhindern. Das Impfen gegen die Vogelgrippe ist unter Fachleuten umstritten, die EU-Agrarminister wollten am Montag über einen entsprechenden Antrag Frankreichs und der Niederlande beraten. Frankreich ist nach der Türkei, Griechenland, Rumänien, Bulgarien, Slowenien, Italien, Österreich und Deutschland das neunte Land in Europa, in dem der H5N1-Erreger festgestellt wurde.
Auch in Asien breitete sich die Vogelgrippe weiter aus: Am Samstag wurde der H5N1-Erreger erstmals in Indien nachgewiesen. In der Umgebung der Stadt Navapur starben in den vergangenen zwei Wochen mindestens 30 000 Hühner. Zudem starb in der Nähe auch ein 27-jähriger Hofbesitzer an einer Grippe, wie ein Behördensprecher am Sonntag erklärte. Die Todesursache werde untersucht.
Nach WHO-Zahlen sind seit dem Ausbruch der Vogelgrippe Ende 2003 mindestens 91 Menschen an der Tierseuche gestorben. Alle Opfer lebten in Ostasien oder der Türkei.

HANDELSBLATT, Sonntag, 19. Februar 2006, 19:14 Uhr


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