Rügen im Ausnahmezustand / In der Tourismusbranche geht die Angst um
Nach dem Ausbruch der Vogelgrippe herrscht auf der Urlauberinsel
Rügen Ausnahmezustand. Doch nach den zum Teil haarsträubenden
Pannen zu Beginn des Seuchenausbruchs auf Rügen beginnt sich das
Räderwerk zu drehen. Gleichzeitig geraten Medienvertreter in die
Kritik, weil sie bei ihrer Berichterstattung zu leichtfertig
vorgehen.
Wer die Ostseeinsel auf dem einzigen Landweg über den Rügendamm
verlassen will, kann dies seit Sonntagmittag nur noch
über ausgelegte Seuchenmatten tun. Speziell ausgebildete
Bundeswehrsoldaten der ABC-Abwehr überwachen den Fahrzeugfluss
an der Brücke. Feuerwehrtrupps eilen über die Insel auf der
Suche nach weiteren toten Wildvögeln. Vorsorglich hat der
Landkreis nach Absprache mit der Landesregierung die Tötung von
Haustieren wie Hühnern, Enten, Gänsen und Puten in besonders
gefährdeten Regionen der Insel angeordnet.
Doch die Bilder von hungrigen Möwen, die sich an Kadavern
möglicherweise infizierter Schwäne laben, machen deutlich, dass
längst nicht alle Infektionswege abgeschnitten werden können.
"Die Lage ist ernst", musste so auch Bundeskanzlerin Angela
Merkel (CDU) am Sonntag nach ersten Gesprächen mit Vertretern
des Krisenstabes in Bergen feststellen. Am Samstag hatte sich
bereits Bundesagrarminister Horst Seehofer (CSU) über die
Situation auf der Insel informiert.
Polizisten riegelten schon kurz nach der Tötungsanordnung am
Sonntagvormittag die betroffenen Höfe mit rot-weiß gestreiften
Plastikbändern ab. Fernsehteams können nun nur noch von Ferne
ihre Kameras auf die Ställe richten, in denen nun die
vorsorgliche Tötung von tausenden Hühnern, Enten und Puten
beginnt. Die Arbeit der Medien war in die Kritik geraten.
"Das Problem ist, dass Journalisten sehr nahe an die toten Tiere
herangehen und auch das Aufsammeln der Kadaver filmen, teilweise
bis in die Kadaversäcke hinein", sagte der Präsident des
Friedrich-Loeffler-Instituts für Tiergesundheit, Thomas
Mettenleiter, im MDR-Fernsehen. "Anschließend gehen die
Kamerateams mit ihrer kontaminierten Ausrüstung und Kleidung
unmittelbar in die Geflügelbestände hinein. Das ist völlig
unverantwortlich und genau das, was wir verhindern wollen."
Auch das Landwirtschaftsministerium Mecklenburg-Vorpommern
forderte von den Medien bei der Berichterstattung über die
Vogelgrippe auf Rügen verantwortungsbewussteres Verhalten. "Es
kann nicht sein, dass Reporter überall rumrennen, Plastiksäcke
von toten Tieren aufreißen und dann ohne Desinfektion weiter
fahren und so womöglich den Virus auf das Festland tragen",
sagte die Sprecherin von Landwirtschaftsminister Till Backhaus
am Sonntag.
Das gefährliche H5N1-Virus ist bisher bei 59 Wildvögeln auf der
Insel nachgewiesen worden. Das Loeffler-Institut auf der
Ostsee-Insel Riems konzentriert laut Mettenleiter seine
Untersuchungen ab sofort auf tote Wildvögel vom Festland. Damit
wollen die Wissenschaftler feststellen, ob sich das hoch
ansteckende Vogelgrippevirus H5N1 nicht vielleicht doch schon
über die Insel hinaus ausgebreitet hat. Nach bislang
unbestätigten Informationen des ZDF soll dies bereits geschehen
sein. Demnach sollen unter anderem in Rostock an Vogelgrippe
verendete Tiere gefunden worden sein.
Der Geflügelhof Kliewe in Mursewiek ist einer der Höfe, denen
die Tötung des Bestandes angewiesen wurde. Er habe zu viel
Besucher gehabt, zu viele Journalisten, sagt Agrarminister Till
Backhaus (SPD) in Schwerin. "Wir unterstützen die vorsorgliche
angeordnete Tötung der Tiere", erklärt Martin Häger, Mitarbeiter
des Hofes und Schwiegersohn des Hofbesitzers Holger Kliewe, am
Telefon. Am Vormittag haben er und seine Mitarbeiter alle 2000
Hühner und Enten zusammengetrieben. "Damit es möglichst schnell
geht", erklärt Häger mit stockender Stimme.
Wie es danach weiter gehen soll, weiß bisher niemand. "Wir sind
unsicher, ob wir überhaupt Entschädigungsleistungen erhalten,"
sagt der Hofbesitzer. 3 Mill. Euro habe die Familie seit 1991 in
die Sanierung des Hofes gesteckt, 20 Arbeitsplätze geschaffen.
Die Existenz des Betriebes sei nun akut in Gefahr. Backhaus
versprach unterdessen, dass Betriebe, die alle Schutzmaßnahmen
ordnungsgemäß umgesetzt haben, den Tierschaden ersetzt bekommen.
Nach Angaben der Landestierärztin Maria Dayen gibt es auf Rügen
rund 800 Geflügelhaltungen mit etwa 400 000 Tieren.
Seit Tagen hält die massive Kritik am Krisenmanagement auf der
Insel in Merkels Wahlkreis an. Auch am Sonntag weigerte sich
Landrätin Kerstin Kassner (Linkspartei.PDS) den Katastrophenfall
auszurufen. Anlass für Backhaus, seine Kritik an der Landrätin
zu erneuern. "Wir haben kein Handlungsdefizit, aber wir haben
ein Umsetzungsdefizit hier auf der Insel", erklärt er.
Die Tourismusbranche, Haupterwerbszweig auf der größten
deutschen Insel, bangt wegen der Vogelgrippe inzwischen um die
bevorstehende Saison. Ferienwohnungen, "Urlaub auf dem
Bauernhof" und Hotelzimmer seien schon storniert worden.
HANDELSBLATT, Sonntag, 19. Februar 2006, 17:12 Uhr