Der Doktor und das böse Vieh

Von Jan Dirk Herbermann

Der Doktor, der die Menschheit vor der Grippe schützen soll, startet diesen Tag mit einer halben Stunde Weltliteratur: "Der Zauberberg" von Thomas Mann. "Das habe ich zwar schon gelesen", sagt Klaus Stöhr. "Aber ich kann es ja noch einmal hören." Er legt die CD mit dem Roman in den Spieler. Und lauscht.
Um sieben Uhr tritt Stöhr aus seinem Haus in dem französischen Dorf Chevry, schaut auf den schneebedeckten Mont Blanc und schultert seinen schwarzen Rucksack. Er steigt auf sein Fahrrad. Vorbei führt der Weg an kahlen Rebstöcken und kargen Feldern, den Zauberberg im Ohr. Krähen gleiten durch den grauen Himmel. Der Deutsche überquert die Grenze zur Schweiz, kurz vor 7.30 Uhr stellt er sein Rad vor dem Genfer Hauptquartier der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ab. Hier leitet Stöhr das globale Anti-Influenza-Programm: Er kämpft gegen die Vogelgrippe.
Am selben Tag wird die WHO wieder eine unangenehme Nachricht über die drohende Seuche verbreiten: "Die Geflügelgrippe breitet sich immer weiter aus. Und die Gefahr einer weltweiten menschlichen Grippeepidemie steigt und steigt." Bis zum Ausbruch einer globalen Influenza unter Menschen, einer Pandemie, sei es nur noch eine Frage der Zeit. Der Name des heimtückischen Feindes ist inzwischen berühmt-berüchtigt: H5N1.
Das Killervirus löst bei Tier und Mensch die Vogelgrippe aus. Im Ernstfall rechnen die Fachleute mit "Hunderten Millionen Fällen schwerer Erkrankungen und Millionen Toten". Auch die Weltbank malt ein düsteres Bild: Eine Pandemie könnte pro Jahr einen globalen Wirtschaftsschaden von 800 Milliarden US-Dollar anrichten.
Ist die Lage wirklich so alarmierend? "Ja", erklärt Stöhr, während er aus einem Automaten einen Kaffee zieht. Er trinkt einen Schluck. Seine braunen Augen heften sich an sein Gegenüber. Er doziert, immer freundlich: "Durchschnittlich tritt eine weltweite Influenza-Pandemie alle 27 Jahre auf. Die letzte Pandemie schlug vor rund 38 Jahren zu, 1968." Nach Schätzungen wird es in Asien drei bis fünf Jahre dauern, um den Erreger H5N1 vollständig zu eliminieren.
Hinzu kommt Schludrigkeit. Viele Regierungen mögen die Gefahr nicht ernst nehmen. "Von 250 Ländern und Territorien haben bisher nur etwa 50, darunter Deutschland, einen Notfallplan veröffentlicht", sagt der WHO-Mann. Stöhrs Ziel ist klar: Alle Länder sollen eine fertige Abwehrstrategie in der Schublade haben, wenn die Epidemie ihren tödlichen Zug um die Welt beginnt. Die Behörden müssen dann Schulen in Lazarette umwandeln, pensionierte Ärzte und Krankenschwestern zum Notdienst rekrutieren. Die WHO listet alle Punkte penibel im Internet auf.
Sein drahtiger Körper befindet sich in einem permanenten Zustand der Bewegung. Er lupft den Kaffeebecher in einen Papierkorb. Stöhr trägt schwarze Jeans, ein blaues Hemd und Krawatte. Jetzt hastet er durch einen rund 100 Meter langen, schmalen Tunnel. Der unterirdische Gang verbindet zwei Gebäude der WHO in Genf.
"Kommen Sie, ich zeige Ihnen jetzt den SHOC-Room", raunt Stöhr und legt noch einen Gang zu. SHOC-Room? Stöhr muss lachen. SHOC klingt wie Schock. SHOC bedeutet aber: Strategic Health Operation Center. Der SHOC-Room ist der Kommandostand der Weltgesundheitsorganisation. Von hier aus koordiniert die Uno-Agentur den Kampf gegen H5N1.
Der Raum liegt tief unter der Erde. Stöhr öffnet die schwere Tür. Rund ein Dutzend WHO-Experten diskutieren in kleinen Gruppen, starren in ihre Rechner, telefonieren mit den Krisengebieten. Wo wird das Virus als Nächstes zuschlagen?
Stöhr geht zu drei Kollegen, er erklärt, er gibt die Richtung vor. Stöhrs Zuhörer nicken. An der linken Wand des Raums hängen vier große Flachbildmonitore. An der Stirnseite ist ein weiterer Bildschirm befestigt. Auf allen Geräten flackern gerade die Umrisse der Türkei. Gebiete mit Ausbruch der Vogelgrippe sind rot, daneben die neuesten Zahlen mit menschlichen Verdachtsfällen, Infektionen, Toten. An diesem Tag bestätigt das Londoner WHO-Labor das dritte H5N1-Opfer in dem kleinasiatischen Land: Wieder ist ein Kind gestorben.
Ununterbrochen laufen CNN und BBC im SHOC-Room. Die schlechten Nachrichten über die Seuche setzen sich ganz oben fest in den Programmen der globalen TV-Sender.
Stöhr ist Medienprofi. Es gibt Tage, da erscheint sein Name auf den Frontseiten fast aller großen deutschen Tageszeitungen. "Ich genieße es nicht unbedingt, mit Reportern zu sprechen", sagt Stöhr leise, um die Mitarbeiter im SHOC-Room nicht zu stören. "Aber es ist nun mal Teil meines Jobs." Stöhr achtet streng darauf, die Informationen genau zu dosieren. "Wir müssen mit unseren Warnungen vor einer Epidemie aufpassen", sagt Stöhr, nachdem er die Tür zum Operationszentrum geschlossen hat. "Wenn wir zu viel über die kommenden Gefahren reden, hört keiner mehr hin, wenn es wirklich so weit ist."
In der Fachwelt jedoch lauschen die Kollegen stets, wenn Stöhr das Wort ergreift. Albert Osterhaus von der Universität Rotterdam, der Vorsitzende der Europäischen Wissenschaftlichen Arbeitsgruppe über Grippe, lobt vor allem Stöhrs diplomatisches Geschick. "Wissenschaftler sind sehr wettbewerbsorientiert", sagt Osterhaus. "Stöhr hat die Fähigkeit, sie zusammenzubringen, sie zusammen arbeiten zu lassen."
Seine internationale Feuerprobe bestand Stöhr vor drei Jahren. Er leitete die wissenschaftliche WHO-Untersuchung über die mysteriöse SARS-Seuche. Er überzeugte Labors, Informationen über die todbringende Lungenkrankheit auszutauschen. "Ich bin überzeugt, dass seine Arbeit die Epidemie unter Kontrolle brachte und schließlich stoppte", sagt Kollege Osterhaus. "Es hätte viel schlimmer enden können."
Stöhr kommt etwas zur Ruhe. Er sitzt in seinem Arbeitszimmer, ignoriert das Klingeln seines Mobiltelefons und erzählt aus seinem Leben.
Zwei Jahre vor dem Bau der Berliner Mauer kommt er 1959 in Dresden zur Welt. Er studiert und promoviert in Leipzig. "Die Angela Merkel hat da vor mir studiert, die kenne ich aber nicht", sagt er mit einem Schmunzeln. Seine Doktorarbeit behandelt Epidemiologie und Infektionskontrolle.
Den ersten Job findet er im Institut für Seuchenbekämpfung in Wusterhausen. Stöhr und sein Team tüfteln an Impfstoffen gegen die Tollwut. Später wird das Mittel bekannt unter dem Namen "Rabifox". 1991 zieht es ihn zur WHO. Hier steigt er schnell auf. "Ich betrachte mich als eine glückliche Person", bilanziert Stöhr. Auch weil er seit mehr als 20 Jahren eine "harmonische Ehe" führt; seine zwei Söhne studieren in England.
Das Telefon klingelt. Er hebt ab. "Klaus Stöhr speaking. Oh yes, ... we ..." Der Kampf gegen H5N1 geht weiter . Stöhr muss jetzt wieder die WHO-Teams in der Türkei unterstützen. Die Experten dort eilen von Einsatz zu Einsatz, in Ankara und im Osten des Landes. "Es ist nicht leicht, die Tierseuche in der Türkei zu besiegen", fürchtet Stöhr.
Seine Leute werden noch einige Zeit vor Ort bleiben müssen. "Wir haben jetzt in 13 Ländern Ausbrüche der Vogelgrippe unter Tieren, in fünf Ländern sind Menschen befallen", sagt Stöhr. Die Türkei wird wohl nicht der letzte Krisenfall bleiben.
Die Seuche rückt immer näher

- Lage
Die Bekämpfung der Vogelgrippe wird mehr und mehr zum Wettlauf gegen die Zeit. "Die Situation ist sehr besorgniserregend", sagte Joseph Domenech, Chef-Veterinär der Welternährungsorganisation (FAO), gestern zum Auftakt einer zweitägigen internationalen Geberkonferenz in Peking. "Wenn die Hilfsmittel nicht sofort eintreffen, werden wir in zwei Monaten viel mehr Geld benötigen." Nach Angaben der Weltbank sind 1,2 bis 1,4 Milliarden Dollar nötig, um die Ausbreitung der Vogelgrippe in den Entwicklungsländern zu bekämpfen.
- Verbreitung
Bislang sind weltweit 148 Menschen erkrankt und 79 Personen an der Grippe gestorben, darunter erst kürzlich vier Kinder in der Türkei. FAO-Mann Domenech: "Die Krankheit kommt der westlichen Welt immer näher." Vor allem China ist betroffen. 2005 meldete das Land den Ausbruch der Krankheit in 13 der 23 Provinzen. 22,5 Millionen Geflügeltiere wurden geschlachtet.
- Risiko
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schätzt das Risiko einer weltweiten Epidemie wie die FAO sehr groß ein. Sollte es zu einem Ausbruch unter Menschen kommen, droht Asien der Kollaps. Im Falle einer Pandemie fallen nach WHO-Schätzungen zwei Drittel der gesamten arbeitenden Bevölkerung in Südostasien und China aus.
- Geld
Deutschland hat auf der Konferenz in Peking Hilfe über 23 Millionen Dollar zugesagt. Die EU will neben den Geldern der Mitgliedstaaten 120 Millionen Dollar zur Bekämpfung beisteuern. Die Weltbank hat bereits 500 Millionen Dollar freigegeben.
- Medikamente
Nicht finanziert wird damit die Entwicklung eines Impfstoffs gegen die Infektion bei Menschen. Dafür seien noch einmal 600 Millionen Dollar nötig, hieß es. Der Schweizer Pharmakonzern Roche hat nach WHO-Angaben weitere Bestände des Grippemittels Tamiflu gespendet. Das Unternehmen werde den betroffenen armen Ländern 20 Millionen Tabletten zur Verfügung stellen.

HANDELSBLATT, Mittwoch, 18. Januar 2006, 18:12 Uhr


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