EU-Kommissar warnt: "Nie zuvor gab es eine solche Bedrohung"
Der für Gesundheit und Verbraucherschutz verantwortliche
EU-Kommissar hat erneut eindringlich vor einer weltweiten
Pandemie durch die Vogelgrippe gewarnt. Nie sei die Bedrohung
größer gewesen. Den ersten Todesfall in Folge der Vogelgrippe
hat es unterdessen womöglich auch in dem von Kurden bewohnten
Nordirak gegeben. Derweil sammelt eine Geberkonferenz Milliarden
für den Kampf gegen die Seuche.
"Seit 1968 war eine menschliche Grippe-Pandemie
niemals so nahe wie heute", sagte EU-Kommissar
Markos Kyprianou zum Auftakt der Vogelgrippe-Konferenz am
Mittwoch in Peking. Niemand könne zwar voraussagen, wann die
nächste Pandemie ausbrechen werde. Doch seien nur zehn
Mutationsschritte des Vogelgrippe-Virus notwendig, um eine
Pandemie bei Menschen auszulösen. Sieben dieser Mutationen seien
bereits in Asien beobachtet worden, fügte Kyprianou hinzu.
Nie zuvor hätten die weltweiten Organisationen aber auch die
Möglichkeiten und Zeit gehabt, sich auf eine potenzielle
Pandemie vorzubereiten. Es sei daher höchste Zeit, dass die
Weltgesundheitsorganisation WHO, die Welternährungsorganisation
FAO, die Tier- und Futtermittelorganisation OIE und die
internationale Staatengemeinschaft gemeinsam die
Herausforderungen angingen. "Die Vogelgrippe wird nicht bald
verschwunden sein", warnte der EU-Kommissar. Die EU sei bereit,
ihr Wissen, ihre Kompetenz und ihre Technologie mit der
internationalen Staatengemeinschaft im Kampf gegen die
Vogelgrippe zu teilen.
UN-Generalsekretär Kofi Annan hat parallel zu schnellem und
entschlossenem Handel im Kampf gegen die Vogelgrippe aufgerufen.
"Es darf keine Zeit verschwendet werden", sagte Annan in einer
Videobotschaft auf der internationalen Geberkonferenz. "Lassen
sie uns sicherstellen, dass wir vorbereitet sind." Das
zweitägige Treffen von 700 Teilnehmern aus 90 Staaten und mehr
als 20 internationalen Organisation soll 1,1 Mrd. Euro
zusammenbringen, um die weltweite Ausbreitung der Geflügelseuche
einzudämmen und vor allem Entwicklungsländern zu helfen.
Kyprianou forderte in Peking insbesondere eine Koordination
nationaler Pläne zur Bekämpfung der Seuche. Er plädierte auch
für Reformen in der Tierzucht, insbesondere aber eine
Verbesserung des Zusammenlebens von Menschen und Geflügeltieren.
Auf Einladung des chinesischen Ministerpräsidenten Wen Jiabao
und mit Unterstützung der EU-Kommission sowie der Weltbank sind
die internationalen Staaten und Organisationen zur
Geberkonferenz in Peking zusammengekommen. Die EU-Kommission
will 100 Mill. Euro zur Bekämpfung der Vogelgrippe
bereitstellen, im Laufe des Tages werden weitere
Hilfsankündigungen von den 25 EU-Mitgliedsstaaten erwartet.
Ein 14-jähriges irakisches Mädchen sei in Sulaimaniya gestorben,
erklärte unterdessen der Gesundheitsminister der kurdischen
Region, Mohammed Chaschnow, am Mittwoch. Die Ärzte gingen davon
aus, dass es sich um Vogelgrippe handeln könnte, sagte er.
Deswegen seien Proben zur Analyse nach Jordanien geschickt
worden. Ergebnisse würden in der kommenden Woche erwartet.
Das Mädchen stammt den Angaben zufolge aus Ranija nördlich des
Dukan-Sees, einem Sammelplatz von Zugvögeln. Das Dorf ist 20
Kilometer von der iranischen Grenze und 100 Kilometer von der
türkischen entfernt. Die anderen Mitglieder der Familie sind
nach Chaschnows Worten wohlauf. Die Familie handele nicht mit
Geflügel.
Das irakische Kurdengebiet grenzt an die Türkei, wo bislang vier
Kinder an der aggressiven H5N1-Variante der Vogelgrippe
gestorben sind. Mehrere Personen sind dort nach engem Kontakt
mit Geflügel infiziert.
Das Gesundheitsministerium der Zentralregierung in Bagdad
bestätigte den Verdachtsfall und hat Experten in die Region
entsandt. Über weitere Fälle lägen keine Informationen vor,
sagte der Leiter des Vogelgrippe-Ausschusses im Ministerium,
Abdul Dschalil Hassan. Am Dukan-See wurden nach seinen Worten
bereits Maßnahmen ergriffen, um Kontakte zwischen Wildvögeln und
Haustieren zu vermeiden.
Bislang springt der H5N1-Virus nicht von Mensch zu Mensch über.
Er hat sich nach Angaben von Experten aber schon so weit
verändert, dass es leichter an menschliche Zellen andockt als
früher. Bei einer Übertragung von Mensch zu Mensch droht eine
Pandemie mit Mill. Todesopfern.
Chinas Ministerpräsident Wen Jiabao rief zu mehr finanzieller
Hilfe im Kampf gegen die Vogelgrippe auf. Die reichen Staaten,
internationale Organisationen wie die Weltbank und große
Unternehmen "müssen eine größere Rolle bei der Finanzierung
spielen". Den am schwersten betroffenen Entwicklungsländern
müsse schnelle und ausreichende Finanzhilfe geleistet werden,
ohne diese mit Bedingung zu verknüpfen. "Die Ausbreitung der
Geflügelgrippe bleibt eine gewaltige Herausforderung, und wir
haben in der Vorbeugung und Kontrolle noch einen langen Weg vor
uns", sagte der Regierungschef Chinas, das die weltweit größte
Geflügelpopulation hat.
Auch internationale Organisationen haben am Mittwoch an die
reichen Länder appelliert, bei der Bekämpfung der Vogelgrippe
großzügig Finanzhilfen zur Verfügung zu stellen. Die Weltbank
hofft, dass bei einer internationalen Konferenz in Peking
mindestens 1,1 Mrd. Euro an Finanzzusagen zusammenkommen. Mit
dem Geld sollen vor allem die Gesundheitsdienste und die
tiermedizinische Versorgung in Entwicklungsländern unterstützt
werden. UN-Generalsekretär Kofi Annan sagte in einer
Videobotschaft an die Tagung, diese Summe sei klein im Vergleich
zu den Kosten einer Pandemie, auf die die Welt nicht vorbereitet
sei.
Die internationale Geberkonferenz wird dabei möglicherweise
sogar mehr Geld für den weltweiten Kampf gegen die Vogelgrippe
zusammenbringen. Während die einzelnen Zusagen am Mittwoch
zusammengerechnet wurden, verlautete aus Delegationskreisen, die
Summe könnte über den von den Vereinten Nationen gewünschten 1,1
Mrd. Euro liegen.
Die USA sagten auf der Konferenz 334 Mill. Dollar (275 Mill.
Euro) an finanzieller und technischer Hilfe zu. Die Weltbank
gibt 500 Mill. Dollar, während die Europäische Union und ihre
Mitgliedstaaten zusammen rund 200 Mill. Euro versprochen haben.
Deutschland gibt davon 13 Mill. Euro. China hat zehn Mill. $ in
Aussicht gestellt. Weitere Zusagen waren noch nicht bekannt.
Zum Abschluss der zweitägigen Konferenz wollten die 700
Delegierten am Mittwoch noch eine "Pekinger Erklärung" annehmen.
Angesichts der drohenden Gefahr einer Pandemie mit Mill. Toten
rufen sie darin zu einem "koordinierten, schnellen und
entschlossenen" Vorgehen auf.
An dem Vogelgrippe-Virus vom Stamm H5N1 sind seit 2003 vor allem
in Asien rund 80 Menschen gestorben. Das Virus hat sich bis in
die Türkei ausgebreitet. Wissenschaftler befürchten, dass es nur
eine Frage der Zeit ist, bis das Virus sich vom Menschen auf den
Menschen überträgt. Am Dienstag wurde der Tod eines Kleinkindes
in Indonesien bestätigt, das mit dem Vogelgrippe-Virus infiziert
war.
HANDELSBLATT, Mittwoch, 18. Januar 2006, 10:00 Uhr