Vogelgrippe: Experten warnen vor Panikmache

Berechtigte Sorge oder Panikmache? Die ersten Infektionen von Menschen mit der Vogelgrippe in der Türkei sorgen auch in Deutschland für Verunsicherung.
Nach einer ZDF-Umfrage sehen immerhin 24 Prozent der Deutschen ihre eigene Gesundheit von den aktuellen Fällen bedroht. Für übertriebene Angst gibt es aber keinen Anlass, sagt der Virologe beim Hamburger Bernhard-Nocht-Institut, Christian Drosten. Auch der Psychologe Dieter Speck empfiehlt: "Wir sollten das Thema runterfahren und den Ball flach halten."
Denn bislang ist in Westeuropa kein einziger Fall der Vogelgrippe beim Menschen nachgewiesen worden. Erste Verdachtsfälle in Brüssel und Köln lösten am Wochenende eine zeitweise, aber unbegründete Aufregung aus. Und obwohl Geflügelimporte aus Ländern mit der Tierseuche verboten sind, strich ein Hamburger Restaurant nach Zeitungsberichten Geflügel von der Speisekarte. In Frankreich war der Verzehr von Huhn oder Pute in den vergangenen Wochen sogar um 20 Prozent rückläufig.
Die Angst vor der Vogelgrippe geht nach Ansicht des Psychologen Speck auch auf die Berichterstattung darüber zurück. Vor allem Boulevardmedien pushten derzeit das Thema nach dem Motto "bad news are good news" hoch, kritisiert er. "Das schafft Schlagzeilen. Das ist der Punkt." Viele Menschen seien schlecht informiert und hätten deswegen Ängste. Auch gesellschaftliche Faktoren spielten eine wichtige Rolle. "Wir sind auf Grund von Arbeitslosigkeit und der damit verbundenen Instabilität sehr viel angstbereiter als früher, da Bedrohungen zugenommen haben", erklärt Speck.
Doch selbst Reisen in Ländern mit der Tierseuche stellen nach Auskunft des Virologen Drosten keine besondere Gefahr dar, sich mit dem Vogelgrippe-Virus anzustecken. "Das holt man sich auch nicht so einfach als Tourist in der Türkei", betont der Mediziner. Um absolut sicherzugehen, sollten Wochenmärkte mit einem Verkauf von offenem Geflügelfleisch gemieden werden. Das Risiko einer Infektion sei aber eher gering, auch wenn es nicht ganz auszuschließen sei. Deutsche Geflügel-Landwirte sollten darüber hinaus keine Geflügelhöfe in der Türkei besuchen. "So etwas kommt in der Realität aber kaum vor. Das sind sehr theoretische Überlegungen."
Die Symptome für die Vogelgrippe beim Menschen unterscheiden sich zunächst nicht von einer herkömmlichen Grippe: "Schlagartig hohes Fieber, Schüttelfrost, Halsschmerzen oder Atembeschwerden", zählt Drosten auf. Ein Verdacht auf Vogelgrippe ergibt sich aber erst, wenn der Patient in einem Land mit der Tierseuche war und dort Kontakt mit infizierten Tieren hatte. Selbst wenn derzeit ein Vogelgrippe-Fall bei einem Menschen in Deutschland auftreten sollte, kann der Patient dem Virologen zufolge mit Medikamenten behandelt werden. Für die Bevölkerung in Deutschland gehe keine unmittelbare Gefahr aus, solange es keine Ansteckungskette von Mensch zu Mensch gebe.
Der Psychologe Speck rät den Menschen daher zu mehr Gelassenheit. "Was wir brauchen, ist mehr Versachlichung." Er glaube sowieso, dass der Mensch seinem Schicksal nicht entkommen könne. Vielleicht hätten auch viele Opfer der Tsunami-Katastrophe in Südostasien vor mehr als einem Jahr Angst vor dem Fliegen gehabt und nicht an eine andere Gefahr gedacht: "Niemand hat damit gerechnet, dass auf einmal eine Flutwelle kommt und 300 000 Menschen auslöscht."
Die UN-Welternährungsorganisation (FAO) hat unterdessen vor einem drohenden Übergreifen der Vogelgrippe auf die Nachbarländer der Türkei gewarnt. Möglicherweise habe das gefährliche H5N1-Virus bereits andere Staaten wie Georgien, Armenien, Syrien oder den Iran erreicht, erklärte der FAO-Experte Samuel Jutzi am Montag in Rom. Die türkischen Behörden bestätigten unterdessen den vierten tödlichen Fall von Vogelgrippe bei Menschen in ihrem Land.
"Es gibt keinen Grund zu glauben, dass das Virus, das im Osten der Türkei entdeckt wurde, noch nicht die Grenze passiert hat", sagte Jutzi. Auch Moldawien, Bulgarien, der Irak und die Ukraine seien bedroht. Bislang gebe es aber noch keine konkreten Informationen über ein Übergreifen, betonte Jutzi. Er rief die Nachbarstaaten der Türkei dennoch zu erhöhter Wachsamkeit auf. Die FAO und die Weltgesundheitsorganisation (WHO) planten in den kommenden Tagen einen Besuch in der Region.

HANDELSBLATT, Montag, 16. Januar 2006, 16:04 Uhr


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