Stallpflicht wahrscheinlich / Bauern fürchten Vogelgrippe
Die Ausbreitung der Vogelgrippe in Europa alarmiert die deutsche
Ernährungsindustrie. Jürgen Abraham, Vorsitzender der
Bundesvereinigung der Deutschen Ernährungsindustrie, forderte,
dass verstärkte Kontrollen des Reiseverkehrs zwischen der Türkei
und Deutschland illegale Importe unterbinden.
Auch Bauernpräsident Gerd Sonnleitner mahnte
angesichts der jüngsten Fälle in der Türkei zu "höchster
Wachsamkeit". Der deutsche Landwirtschaftsminister Horst
Seehofer (CSU) beriet gestern mit seinen Kollegen aus den
Bundesländern über Maßnahmen zum Schutz gegen eine weitere
Ausbreitung der Seuche. Er werde noch im Januar entscheiden, ob
für die Zeit des Vogelzuges ab März erneut eine Stallpflicht in
eutschland verhängt wird, sagte Seehofer nach dem Treffen.
Dieser Schritt werde "mit höchster Wahrscheinlichkeit" notwendig
sein. Nach der Ausbreitung der Vogelgrippe auf Russland hatte
der damalige Bundesumweltminister Jürgen Trittin am 22. Oktober
2005 die Freilandhaltung von Geflügel verboten, um eine
Ansteckung durch Zugvögel zu verhindern. Das Verbot wurde am 15.
Dezember aufgehoben.
Derzeit entscheidender für das Risiko einer Übertragung der
Tierseuche sei aber der illegale Import von Geflügel und
Produkten aus den befallenen Regionen wie der Türkei und
Rumänien, erklärte Seehofer. In der EU wird Deutschland nach
seinen Worten darauf dringen, dass die Kontrollen an den
Außengrenzen verstärkt werden. Wenn in Deutschland illegal
eingeführte Geflügelprodukte beschlagnahmt würden, deute das
darauf hin, dass an den Außengrenzen zu wenig kontrolliert
werde.
Auch die Vereinten Nationen haben gestern vor einem ernsthaften
Risiko für die Nachbarländer der Türkei gewarnt. Zuvor waren in
einem türkischen Touristengebiet am Mittelmeer vier Menschen mit
Verdacht auf Vogelgrippe ins Krankenhaus gebracht worden. Der
auch für den Menschen gefährliche Vogelgrippe-Erreger H5N1 hat
bereits Tiere in rund einem Drittel aller türkischen Provinzen
befallen.
Für eine wirksame Bekämpfung der Seuche müsste die
internationale Gemeinschaft nach Einschätzung der Uno 1,5 Mrd.
Dollar bereitstellen. Mit dieser Summe könnten die
internationalen Organisationen ihren Kampf gegen die Krankheit
führen und die einzelnen Länder ihre Grippeprogramme und
effektive Kontrollsysteme aufbauen, erklärte der zuständige
Uno-Koordinator David Nabarro in New York. Sollte es zu einer
Vogelgrippe-Pandemie kommen, wäre aber weit mehr Geld nötig.
Nabarro forderte zu großzügigen Spenden bei einer
internationalen Konferenz zur Vogelgrippe nächste Woche in
Peking auf. Der Chef der Weltorganisation für Tiergesundheit,
Bernard Vallat, rief die Geber auf, ärmeren Ländern bei der
Entwicklung von Programmen zur Bekämpfung von Seuchen unter die
Arme zu greifen. Er zeigte sich besorgt, dass auch einige Länder
Osteuropas teilweise nicht das erforderliche Netzwerk von
Tiermedizinern hätten, das nötig sei, den Ausbruch von
Krankheiten zu stoppen.
Sollte in den deutschen Zentren der Geflügel- und Eierproduktion
die Vogelgrippe ausbrechen, drohen der Branche nach Aussage von
Bauernpräsident Sonnleitner Schäden in zwei- bis dreistelliger
Millionenhöhe. Es träfe ausgerechnet eine Wachstumsbranche: So
stieg die Produktion von Geflügel zuletzt um sieben Prozent, bei
Hähnchen sogar um zwölf Prozent. Pro Kopf essen die Deutschen im
Schnitt 18 Kilo Geflügelfleisch pro Jahr. Drei Viertel davon
kommen aus heimischer Produktion, den Rest steuern zumeist
niederländische Firmen bei. Die Erlöse aus dem Verkauf von Eiern
und Geflügelfleisch betrugen zuletzt zwei Mrd. Euro jährlich.
Die im Zentralverband der Deutschen Geflügelwirtschaft
zusammengeschlossenen Betriebe hoffen, dass auch bei einem
ersten Auftreten des Erregers in Deutschland sich die
zwangsweise Tötung von befallenen Tieren regional begrenzen
lässt. Hier habe man viel aus den Erfahrungen mit der Hühnerpest
in den Niederlanden im Jahr 2003 gelernt.
Einen Rückgang des Konsums von Geflügelfleisch auf Grund der
Meldungen über die Vogelgrippe habe man bisher nicht feststellen
können. Allerdings habe der Skandal wegen des "Gammelfleischs"
den Verbrauch bereits um zehn bis 15 Prozent nach unten
gedrückt. Nach einer aktuellen Forsa-Umfrage für den
Nachrichtensender N-TV hat derzeit ein Viertel der Befragten
Angst vor der Vogelgrippe. Im Oktober waren es erst 16 Prozent.
Die weitere Ausbreitung der Seuche überschattet auch die
Landwirtschaftsmesse Grüne Woche, die am Freitag in Berlin
startet. Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat strenge
Kontrollen bei der Grünen Woche gefordert, um eine Ausbreitung
der Vogelgrippe zu verhindern. Die Messeleitung dagegen
erklärte, dass zusätzliche Schutzmaßnahmen nicht nötig seien.
Unter den rund 10 000 präsentierten Tieren befänden sich nur 25
Stück Rassegeflügel sowie einige Papageien, Zwerghühner und
Tauben. Alle Vögel seien geimpft und untersucht worden.
HANDELSBLATT, Donnerstag, 12. Januar 2006, 08:33 Uhr