Keinen Appetit mehr auf Eier
Vogelgrippe - Von Gerd Höhler
Das Vogelgrippevirus erreicht die türkischen Städte. Händler
beklagen die drastisch gefallenen Preise für Eier und Geflügel.
Die Bauern verstehen die ganze Aufregung nicht - keiner hat
ihnen gesagt, wie gefährlich das Virus ist.
Noch vor zwei Wochen kostete ein Karton Eier auf den
Istanbuler Märkten 2,50 Lira, umgerechnet 1,50 Euro. Jetzt gibt
es ihn schon für 90 Cent - wenn sich überhaupt ein Käufer dafür
findet. "Unser Absatz ist um 40 Prozent eingebrochen", klagt
Hasan Konya, der südlich von Ankara eine große Hühnerfarm
betreibt. Die Vogelgrippe hat den Türken den Appetit auf Eier
und Geflügel verdorben.
Seit vor zehn Tagen im osttürkischen Van der 14-jährige Mehmet
Ali Kocyigit als erstes von bisher drei Opfern an der Seuche
starb, wächst die Zahl der Verdachts- und Infektionsfälle in
beängstigendem Tempo. Am Montagabend war das Virus erstmals bei
verendeten Vögeln im Urlaubsort Kusadasi an der türkischen
Ägäisküste gefunden worden. Am Dienstag wurde es auch in der
Hafenstadt Izmir entdeckt. Damit hat es die türkischen
Feriengebiete erreicht - und die Schwelle Europas.
Mehr als 70 Menschen stehen in den Kliniken des Landes bereits
wegen verdächtiger Symptome unter Beobachtung. Wie viele
Infektionsfälle es bisher gibt, ist unklar - unterschiedliche
Stellen machen widersprüchliche Angaben. Von 42 nachgewiesenen
Vogelgrippe-Erkrankungen sprach am Dienstag die Europäische
Kommission. Die türkischen Behörden nannten 15 Fälle,
einschließlich zweier gestorbener Kinder und einer am Dienstag
positiv getesteten 37-jährigen Frau im osttürkischen Sivas. Die
Weltgesundheitsorganisation WHO meldet bisher nur vier
zweifelsfrei festgestellte Infektionen. In weiteren zehn
Verdachtsfällen seien die Untersuchungen noch nicht
abgeschlossen, sagte WHO-Sprecherin Maria Cheng in Genf.
Unterdessen machen Veterinäre, unterstützt von Soldaten und
Polizisten, Jagd auf Federvieh in den Infektionsgebieten. Dazu
gehört inzwischen auch die Wirtschaftsmetropole Istanbul, deren
Vorort Kücükcemece unter Quarantäne gestellt wurde.
Bürgermeister Muammer Güler ließ den Straßenhandel mit Geflügel
und Eiern verbieten, 3 000 Tiere wurden gekeult.
In der Osttürkei, wo bisher 110 000 Hühner, Puten, Gänse und
Enten in Plastiksäcke gesteckt und bei lebendigem Leib zappelnd
und kreischend mit Bulldozern vergraben wurden, behindert das
winterliche Wetter die Eindämmung der Seuche. Nach starken
Schneefällen sind viele Dörfer unerreichbar. Und fast in jedem
Haushalt der Region leben Hühner. Viele Familien verstecken ihre
Tiere vor den Häschern, obwohl die Regierung Entschädigungen
verspricht.
Die Unwissenheit über die Gefahren der Seuche ist immer noch
groß - auch weil es die Regierung aus falsch verstandener
Staatsräson versäumte, die überwiegend kurdische Bevölkerung der
Region mit Informationen in ihrer Muttersprache zu versorgen.
Nicht nur in der verarmten, seit Jahrzehnten von der Politik
vernachlässigten Osttürkei sind die hygienischen Verhältnisse
problematisch. Auch der diese Woche in der ganzen Türkei
gefeierte Kurban Bayrami, das islamische Opferfest, könnte eine
weitere Ausbreitung des Erregers begünstigen: Das Blut der
Opfertiere steht in großen Lachen auf den Straßen, strömt in die
Rinnsteine und versickert in den Parks. Tierkadaver baumeln von
Strommasten.
Gencay Gürsoy, der Vorsitzende der Istanbuler Ärztekammer,
warnt, das Virus könnte sich über Hufe und Haut der Opfertiere,
die nun kreuz und quer durchs Land gekarrt werden, weiter
verbreiten - eine Befürchtung, die der strenggläubige
Ministerpräsident Tayyip Erdogan verärgert zurückwies: Es sei
ein "ernster Fehler, eine Verbindung mit den Opfertieren
herzustellen".
Die Wirtschaft plagen unterdessen andere Sorgen. Nicht nur bei
den Geflügelzüchtern, auch in der türkischen Tourismusbranche
wächst die Furcht vor drohenden Einbußen. Von einer
"alarmierenden Situation" spricht Osman Aydik, Vorsitzender
eines Hotelierverbandes im südtürkischen Antalya. Ahmet Barut,
Präsident der türkischen Hotelierkammer, berichtet, noch gebe es
zwar keine Stornierungen, aber die Buchungen liefen nur
schleppend. Die Branche fürchtet, dass die ausländischen
Reiseveranstalter nun versuchen könnten, Preisnachlässe
durchzudrücken.
Die türkische Tourismuswirtschaft ist der zweitwichtigste
Devisenbringer des Landes nach der Textilindustrie und
erwirtschaftet mit ihren 1,5 Millionen Beschäftigen 5,5 Prozent
des türkischen Bruttoinlandsprodukts. Im vergangenen Jahr kamen
21 Millionen ausländische Besucher in die Türkei, darunter 4,5
Millionen aus Deutschland. Nach Russland haben wegen der
Vogelgrippe jetzt auch Italien und Estland vor Reisen in die
Türkei gewarnt.
HANDELSBLATT, Mittwoch, 11. Januar 2006, 17:36 Uhr