Briten rechnen mit 50 000 Toten bei Vogelgrippen-Pandemie
Die Bundesregierung hat nach der Ausbreitung des gefährliche
Stranges der Vogelgrippe nach Europa erneut zur Besonnenheit
gemahnt und sieht derzeit keine Gefahr für die Menschen in
Deutschland. Glaubt man dagegen den Worten britischer
Experten, kann sich das ganz schnell ändern.
BERLIN. Die bisherigen Erfahrungen mit Vogelgrippe-Viren
zeigten, dass der Erreger sich mit einem menschlichen
Grippe-Virus verbinden und dadurch wie ein normaler
Grippe-Virus leicht übertragbar werden könne, sagte der Chef
der britischen Gesundheitsbehörde, Liam Donaldson, am Sonntag.
Für diesen Fall rechnet Großbritannien mit mindestens 50 000
Toten.
"Wir nehmen die Entwicklung ernst. Für Panik und Hysterie
besteht aber überhaupt keine Veranlassung", erklärte dagegen
am Sonntag ein Sprecher des Gesundheitsministeriums. Die
Gefahr einer weltweiten Epidemie wäre erst gegeben, wenn der
Virus auf Menschen überspringe und sich so verändere, dass er
von Mensch zu Mensch übertragen werde. Derzeit aber bestehe in
Deutschland und Westeuropa kaum eine Gefahr für Menschen. Das
Ministerium wies zudem die Forderung des bayerischen Ministers
für Verbraucherschutz, Werner Schnappauf (CSU), zurück, der
vom Bund eine nationale Impfstrategie bei Übernahme der
entsprechenden Kosten gefordert hatte. Im Katastrophenfall
seien eindeutig die Länder zuständig. Der Bund tue schon mehr
als er müsse.
Der Chef der britischen Gesundheitsbehörde sagte dagegen dem
Fernsehsender BBC: "Alle zehn bis vierzig Jahre verwandelt
sich der Grippevirus in einen Strang, gegen den wir keine
natürlichen Abwehrkräfte haben." Eine normale Wintergrippe
raffe mehr als 12 000 Menschen in Großbritannien hinweg. Bei
einem Ausbruch der Vogelgrippe bei Menschen rechneten die
Behörde mit 50 000 zusätzlichen Toten, "aber die Zahl kann um
Vieles höher sein - das hängt davon ab, ob der Strang leichte
oder schwere Infektionen auslöst".
Seinen Angaben zufolge legt Großbritannien ausgedehnte Vorräte
an Anti-Viren-Medikamenten an, die die Infektionen dämpfen und
einen Teil der Todesfälle verhindern können. Eine
Einschränkung der Bewegungsfreiheit der Menschen gehöre nicht
zu den ersten Maßnahmen, die das Land ergreifen werde, sagte
Donaldson.
Britische Wissenschaftler hatten am Samstag bestätigt, dass
bei im Donau-Delta verendeten Enten in Rumänien Viren des auch
für Menschen gefährlichen Typs H5N1 isoliert wurden. Das Land
schlachtete daraufhin am Sonntag Tausende von Vögeln, um die
Ausbreitung zu verhindern.
In dem Dorf Ceamurlia de Jos sei der gesamte Geflügelbestand
von 18 000 Tieren getötet worden, sagte der rumänische
Landwirtschaftsminister Gheorghe Flutur am Sonntag. In dem
zweiten betroffenen Ort Maliuc sei die Schlachtung von 3000
Tieren in vollem Gang. "Tests sind in einem Umkreis von zehn
Kilometern um Ceamurlia de Jos negativ", sagte er.
Das Donau-Delta ist eine Zwischenstation für Zugvögel auf
ihrem Weg von Deutschland, Russland, Skandinavien und Polen
nach Nordafrika. In der Region sind sechs Landkreise
abgeriegelt worden. Fahrzeuge werden an Kontrollpunkten
desinfiziert, Geflügel und Schweine haben Stallpflicht und der
Transport von lebendigen Tieren ist verboten. Auch die Türkei
hat Maßnahmen gegen die Vogelgrippe eingeleitet, nachdem die
Krankheit auf einer Farm im Nordwesten entdeckt worden war.
Neun Menschen, bei denen Infektion mit dem H5N1-Strang
befürchtet worden war, wurden am Samstag aus dem Krankenhaus
entlassen.
Das Bundesgesundheitsministerium erneuerte seine Warnung,
Reisende sollten in Asien, in der Türkei und Rumänien
Geflügelmärkte zu meiden. Sie sollten dort auch kein
Geflügelfleisch essen und sich strikt daran halten, keine
tierischen Produkte von dort nach Deutschland zu bringen.
Das Verbraucherschutzministerium erklärte, für zusätzliche
Maßnahmen bestehe derzeit kein Anlass. Es gelte der am Freitag
mit den Ländern verabredete Aktionsplan, der neben einer
Stallpflicht für Geflügel in Risikoregionen verstärkte
Kontrollen des Importverbots für Vögel, Geflügel und
Geflügelfleisch aus Ländern vorsieht, in denen Vogelgrippe
nachgewiesen wurde. Am Dienstag wollen Bund und Länder erneut
über die Lage beraten.
Bayerns Minister Schnappauf hatte zudem gefordert, der Bund
müsse eine nationale Impfstrategie vorbereiten und
finanzieren. Die Produktionskapazitäten für Impfstoff gegen
Grippe in Deutschland müssten erweitert werden. Außerdem
müssten die Zuständigkeiten von Bund und Ländern klarer
geregelt werden, insbesondere, was globale Infektionen
betreffe. Das Bundesgesundheitsministerium hielt dem entgegen,
die Zuständigkeiten von Bund und Ländern seien rechtlich klar
geregelt. Im Katastrophenfall liege die Verantwortung bei den
Ländern. Bei den Verhandlungen über eine Föderalismusreform
habe der Bund seinerzeit vorgeschlagen, Zuständigkeiten beim
Schutz vor globalen Infektionen auf den Bund zu übertragen.
"Wegen des Widerspruchs der Länder kam es nicht zu einer
Einigung."
Mit seiner Forderung nach einer nationalen Impfstrategie und
nach einer erweiterten Impfstoffproduktion vermenge oder
verwechsel der bayerische Minister die Gefahr einer durch die
Vogelgrippe ausgelösten Epidemie mit der normalen
Wintergrippe. Derzeit gebe es nur Impfstoffe gegen die
Wintergrippe und die seien in ausreichendem Maße vorhanden.
Nach Angaben von Michael Pfleiderer vom zuständigen
Paul-Ehrlich-Institut gibt es derzeit mit 22 Millionen
Impfeinheiten allerdings rund zwei Millionen Impfdosen weniger
als im Vorjahr.
In einer Blitzumfrage für den Berufsverband der Lungenärzte
gaben mehr als 30 % der Befragten an, sie fühlten sich durch
die Vogelgrippe bedroht. Zudem wollten sich fast doppelt so
viele Menschen in diesem Jahr gegen Grippe impfen lassen als
im vergangenen Jahr.
Der für den Menschen gefährliche Vogelgrippen-Virus H5N1 ist
erstmals 1997 in Hongkong aufgetaucht. 1,5 Mill. Vögel
verendeten daran oder wurden als Maßnahme gegen eine
Ausbreitung geschlachtet. 18 Menschen erkrankten an dem Virus,
davon kamen sechs ums Leben. Im Jahr 2003 tauchte der Virus
von neuem in Südkorea auf und breitete sich von dort nach
China, Vietnam, Thailand, Laos, Indonesien und zuletzt bis in
die Türkei und Rumänien aus. An H5N1 sind seither der
Weltgesundheitsorganisation (WHO) zufolge 117 Menschen
erkrankt, 60 davon starben.
HANDELSBLATT, Sonntag, 16. Oktober 2005, 18:05 Uhr