Als Vorsorgemaßnahme soll Geflügel ab September in den Stall - Experte kritisiert Bundesländer / Künast sperrt die Hühner ein

Glückliche Legehennen, die über den Hof flattern und ihr Futter picken - jahrelang war dies das Ideal der Gegner der Käfigtierhaltung. Doch kurz vor der Bundestagswahl wird ausgerechnet die grüne Verbraucherministerin Renate Künast dieses Idyll beenden. BERLIN. Spätestens ab dem 15. September müssen Hühner, Gänse und Enten wahrscheinlich für drei Monate in den Stall, sagte ihr Staatssekretär Alexander Müller gestern dem Handelsblatt: "Jede Maßnahme, die das Risiko der Vogelgrippe minimiert, wird umgesetzt." Die Ausbreitung des tückischen Erregers H5N1 hat die Experten in Alarmbereitschaft versetzt. Seit Ende 2003 überzieht er die Länder Asiens und hat zu einem Massensterben auf dortigen Geflügelfarmen geführt. Am Dienstag bestätigten russische Behörden den Ausbruch des Virus in Tscheljabinsk im Ural, der wie eine natürliche Grenze zwischen Asien und Europa wirkt. Ein Massentod von Vögeln in der westlich gelegenen Region Kalmykien wird zwar noch untersucht. Doch zeigten sich Ornithologen gestern bei einem Expertentreffen des Künast-Ministeriums überzeugt, dass das Virus westlich des Uralgebirges angekommen ist. Es sei „nur eine Frage der Zeit", bis sich die Grippe auch bei uns ausbreitet, warnte Wolfgang Fiedler, der Leiter der Vogelschutzwarte Radolfzell. Die Lage, bestätigte Müller, sei "Besorgnis erregend". Anlass zur Panik besteht aber nicht. Die düsteren Einschätzungen beziehen sich nämlich zunächst nur auf die Gefährdung des Geflügels, nicht der Menschen. Zwar sind in Vietnam, Thailand und Kambodscha insgesamt 57 Menschen an der Vogelgrippe gestorben. Doch waren sie sämtlich eng mit infizierten Tieren in Kontakt und hatten das Virus wahrscheinlich über Staubpartikel von Kot eingeatmet. Zu einer Bedrohung für die Masse der Bevölkerung würde die Vogelgrippe erst dann, wenn das Virus mutiert und eine Übertragung von Mensch zu Mensch möglich wird. Niemand wisse, ob und wann dies passiere, sagte Reinhard Kurth, der Leiter des Robert-Koch-Instituts, der „Frankfurter Allgemeinen". Horrorszenarien einer weltweiten Pandemie seien unangebracht, doch: "Die Gefahr ist real und das Risiko so hoch wie seit Jahrzehnten nicht mehr." Vor allem auf zwei Wegen könnte der Erreger nach Deutschland eingeschleppt werden: durch Wildvögel und den Import von infiziertem Gefieder. Offiziell ist die Einfuhr von Geflügel, Eiern und Federn aus den asiatischen Staaten und Russland bereits verboten. Doch der Fund infizierter Vögel in einem Koffer aus Asien auf dem Brüsseler Flughafen beweist, dass der Schmuggel keineswegs zum Erliegen gekommen ist. Mindestens so gefährlich dürften die Wildvögel sein. Zwar fliegen viele Arten im Oktober und November erstmals in die südlichen Winterquartiere. Doch kommen umgekehrt vor allem Enten ab Mitte September aus dem kalten Sibirien nach Europa und könnten dabei das Virus einschleppen. Künast will deshalb Anfang der Woche die Verordnung für ein "Aufstallungsgebot" vorlegen. Die Details sollen mit den Ländern vereinbart werden, doch wahrscheinlich müssen frei laufende Tiere auf Farmen mit mehr als 1 000 Legehennen im Herbst in den Stall. So soll das Risiko einer Übertragung vermindert werden. Die Impfung des Federviehs ist in der EU verboten, da dadurch zwar die Tiere immun würden, sie den Erreger aber weiter übertragen könnten. Ein gentechnisch veränderter Impfstoff, der diesen Nachteil nicht hätte, befindet sich noch in der Erprobung und wäre zudem teuer. Für Menschen ist eine vorsorgliche Impfung gar nicht möglich. Die Gesundheitsminister von Bund und Ländern hatten jedoch vereinbart, für den Notfall Grippeschutzmittel für 20 Prozent der Bevölkerung vorzuhalten, die den Verlauf der Krankheit abschwächen können. Bislang wurde aber nur für zehn Prozent vorgesorgt. „Die Gefahr wird unterschätzt", warnte Kurth: Die Länder müssten dringend nachrüsten.

Nord- und Osteuropa: Kein erhöhtes Risiko
Skandinavien: In Nordeuropa wird die drohende Verbreitung der Vogelgrippe zwar genauestens beobachtet. Doch im Gegensatz zu Deutschland sehen die Experten "kein erhöhtes Risiko", wie ein Sprecher der zuständigen schwedischen Sozialbehörde erklärte. Das Auftreten der Vogelgrippe in Russland verändere nichts. Vorsorglich hat die Behörde dennoch für 10,7 Mill. Euro Medikamente gegen die Vogelgrippe eingekauft. Die reichen allerdings nur für einen kleinen Teil der Bevölkerung, ein Problem, unter dem nahezu alle Länder leiden.
Baltische Staaten: Auch die baltischen Staaten und die meisten Länder Osteuropas schätzen trotz der geographischen Nähe zu Russland die Gefahren der Vogelgrippe und das Risiko einer Pandemie als relativ gering ein.

HANDELSBLATT, Freitag, 19. August 2005, 10:50 Uhr


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