Massenschlachtungen in Russland sollen die Vogelgrippe auf ihrem Weg in die EU stoppen

Wenn sie mir meine Hühner stehlen wollen, flüchte ich mit ihnen in den Wald", schreit Galina Petrowna weinend. "100 Rubel pro Henne, das ist doch Diebstahl! Da nehme ich meine Glucken lieber mit und verkaufe sie später heimlich", droht die Alte.

MOSKAU. Dorfvorsteher Sergej Jurjew will nicht einmal widersprechen: 100 Rubel pro notgeschlachtetes Huhn, umgerechnet nicht einmal drei Euro, 150 Rubel pro Ente und 200 je Gans seien natürlich "ein Witz", räumt der hagere, groß gewachsene Schnauzbartträger ein.
Auch der Bürgermeister ist in Sorge. An diesem Morgen sitzt er in einem olivfarbenen Camouflageanzug in seiner zweistöckigen Amtsbaracke, die eingeklemmt ist zwischen einer chemischen Reinigung und dem Postamt und sagt: "Wenn in unserer Hähnchenmästerei, die der größte Arbeitgeber vor Ort ist, alle Tiere geschlachtet werden müssen, dann gute Nacht."
Mit Massennotschlachtungen will die Regierung die Ausbreitung der tödlichen Vogelgrippe in Russland stoppen. Seit Wochen wütet der Virus in Sibirien, er hat sich bereits über eine Fläche größer als ganz Deutschland ausgebreitet und rückt Tag für Tag weiter Richtung Westen. Hatte das lebensgefährliche H5N1-Vogelgrippe-Virus vor drei Wochen zuerst im Nowosibirsker Gebiet Hunderte Vögel, Enten und Hühner dahingerafft, so melden jetzt auch die westsibirischen Provinzen Omsk, Altai und Tjumen den Ausbruch der Hühnergrippe. Auch das angrenzende Kasachstan ist schon betroffen, dort ist sogar ein Arbeiter einer Mästerei mit Symptomen der Krankheit in eine Klinik gebracht worden. Ein Fall, der wieder einmal die These zu bestätigen scheint, dass die Vogelkrankheit auf den Menschen überspringen kann. In Asien, speziell in Thailand, Vietnam, Kambodscha und im vorigen Monat erstmals auch in Indonesien, sind bisher mindestens 57 Menschen daran gestorben.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schätzt den H5N1-Virus als so gefährlich ein, dass sie bereits vor einer tödlichen Pandemie ähnlich der "Spanischen Grippe" zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit mehr als einer Million Toten warnt. Vorgestern hat auch das russische Notfallministerium auf eine mögliche Ausbreitung bis in den europäischen Teil Russlands und sogar in die EU aufmerksam gemacht, wenn die Zugvögel im Herbst aus ihren Sommerquartieren in Sibirien zurückkehrten. In Moskau, so rechnen es bereits russische Epidemie-Experten vor, käme die Vogelgrippe "in anderthalb Monaten an, wenn sie sich im gleichen Tempo wie bisher durch das Land frisst". In Deutschland gab es zuletzt 2003 Fälle von Vogelgrippe, als der Virus sich in den Niederlanden und in einem Betrieb in Niedersachsen ausbreitete.
"Da sitzen die Schuldigen", zeigt Katja, eine Schülerin mit langer, blonder Mähne, auf den Teich des Dorfes Susdalka und einen Schwarm Wildenten. Mitte Juli ist in diesem Dorf nahe der sibirischen Metropole Nowosibirsk die Vogelgrippe erstmals in Russland ausgebrochen. Seither sind in der Region bereits über 4 000 Hühner, Enten, Gänse und Puten durch die von Zugvögeln eingeschleppten Viren verendet. Kinder hatten verendete Wildenten nach Hause geschleppt. Tage später starb reihenweise das heimische Federvieh.
Unterdessen haben Polizisten beide Zufahrten zu dem Dorf abgesperrt: Wer hinein- oder hinausfahren will, muss über mit Chemikalien getränkte Hügel von Holzspänen rollen, aussteigen, die Schuhe in den Spänen abstreifen und den Kofferraum öffnen. Im Dorf nehmen Arbeiter in weißen Schutzanzügen, mit Atemmasken und gelben Handschuhen Blutproben von notgeschlachteten Gänsen. Die toten Tiere werden dann in Plastiksäcke geworfen und auf einem LKW weggefahren ? zur Verbrennung außerhalb des Dorfs. Zeitgleich sprühen Männer in blauen Kitteln die Holzverschläge der Hühnerhalter mit einer Chlorbrühe ein, während sich angetrunkene Einheimische schon am Morgen über den Zaun recken, um die Desinfektionsarbeiten zu kommentieren.
Im Hof von Walentina Konowalowa ist kein Fleckchen Erde mehr zu erkennen, überall stehen jetzt Hühner dicht an dicht. "Meine sind doch gesund", will sie die vermummten Arbeiter vom Betreten ihres Hofes abhalten. "Ich lasse sie nicht mehr raus, weil das ja verboten ist. Und ich lasse sie kein Gras fressen, sondern füttere sie mit Kohlblättern und Prostokwascha, einem Sauermilchgebräu. Das tötet doch alle Bakterien ab."
Alles Flehen wird wohl nicht helfen. 65 000 Federtieren allein in der Region Nowosibirsk hat Gouverneur Wiktor Tolokonskij per Notschlachtung den Tod verordnet. Auch die Jagd auf Wildenten ist in Russland inzwischen verboten, und alle russischen Mästereien und Legebatterien sind angewiesen worden, strikte Quarantäne einzuhalten. Doch ob die Maßnahmen greifen, das bezweifeln angesichts des landesüblichen Schlendrians und korrupter Behörden viele Experten.
Während die Ukraine, Georgien, Weißrussland und Hongkong bereits ein Importverbot für Russen-Huhn verhängt haben, wiegelt Moskaus oberster Veterinär noch ab. "Menschen sind in Russland im Moment nicht bedroht", sagt Gennadij Onischtschenko trotz des Massensterbens der Hennen in Sibirien. So werden bisher nur im sibirischen Tjumen die Krankenhäuser auf einen möglichen Massenandrang Grippekranker vorbereitet.
Dagegen wird in Moskau Geflügel weiter ungehindert verkauft. Und das, obwohl dort jedes fünfte Ei aus Sibirien stammt ?so auch Eier aus der "Borowskaja"-Legebatterie im gerade erst neu infizierten Tjumener Oblast. Seit das bekannt geworden ist, melden sich immer mehr Experten, die ein rasches Verkaufsverbot für sibirische Eier fordern. "Sie wollen unsere Geflügelindustrie vernichten, die gerade erst auf die Beine gekommen ist. Und wollen uns dann wieder mit Bush-Beinchen füttern", schimpft ein Bauer in Susdalka, schon ehe es so weit ist.
"Bush-Legs" heißen in Russland noch heute jene Hähnchenschenkel, die zu Zeiten des Untergangs der Sowjetunion aus Amerika importiert wurden. George Bush, der Vater des heutigen Präsidenten, schickte der Not leidenden russischen Bevölkerung damals tonnenweise Hühnchen, anderes Fleisch war zwischen Petersburg und Pazifik kaum zu bekommen. Der Bauer sagt: "Und von Amerika wollen wir doch nicht noch mal abhängig sein."

HANDELSBLATT, Freitag, 05. August 2005, 10:09 Uhr


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